Der Wiederaufbau von Notre-Dame kann sich Jahrzehnte hinziehen. Der Neubau dauerte noch länger: Wer die Dombauherren waren, und wie sich ihre Kunst verbreitete.
Wir schreiben Mitte des 12. Jahrhunderts. In Saint-Denis, im Norden Frankreichs, tummeln sich zahlreiche Handwerker, aber auch Frauen und Kinder auf einer Baustelle. Einer der Handwerker übt mit seinem Sohn Wilhelm das Zeichnen von einzelnen Formen, die man beim Kathedralen-Bau braucht. So oder so ähnlich könnte es gewesen sein. Der Nachwuchs-Baumeister jedenfalls sollte später als Wilhelm von Sens berühmt werden und Saint-Denis als erste gotische Kathedrale.
Genau wissen wir es nicht, denn vieles liegt im Dunkel der Geschichte. „Die Ausbildung der Baumeister wurde erst im 15. Jahrhundert geregelt und niedergeschrieben“, erklärt Barbara Schedl. Vieles war Tradition und ist nach Versuch und Irrtum entstanden. So viel kann die Kunsthistorikerin der Uni Wien aber sagen: „Zuerst gab es eine lange Lehrzeit als Steinmetz.“ Danach musste man sich auf der Baustelle hocharbeiten, bis man Parlier (heute würde man Polier sagen) wurde – die Nummer zwei hinter dem Baumeister .
Doch so weit ist es für Wilhelm noch lange nicht: Im Mittelalter endet die Kindheit mit etwa sieben Jahren, danach werden die Kinder in die Arbeit eingeführt. Im Fall von Wilhelm ist es die der Steinmetze. Damit gehört er zur kommenden Elite, wird mit zwölf Jahren in den Bund der Steinmetze aufgenommen und verpflichtet, seine Arbeitstechniken niemals an Berufsfremde zu verraten.
Bauboom
Es ist die Hochblüte der Zunft: Die europäische Gesellschaft ist im Aufbruch – die Kreuzzüge bringen neue Ideen aus dem Orient und führen zu technischen Neuerungen, günstigeres Klima verbessert die Ernährungslage der Menschen und führt zu einem Bevölkerungsanstieg. Im 12. und 13. Jahrhundert entstehen neue Städte – Bauboom inklusive. Die Bürger werden selbstbewusst. Sich einen großen Kirchenbau zu leisten, ist da nur konsequent. Schedl: „Man ließ sich nicht lumpen und hat sich internationale Stararchitekten geholt.“ Schon damals wurden Architekten-Wettbewerbe ausgeschrieben. „Im Fall von Mailänder Dom und St. Stephan ist das überliefert“, erzählt Schedl.Die Umgebung von Paris ist der Hotspot der beginnenden Gotik: Während dreier Generationen werden mehr als 20 Großkirchen gebaut, die riesigen Baustellen bilden einen wichtigen Motor für die ganze Region, um die 10.000 Menschen arbeiten an den gotischen Kathedralen. Äbte, Bischöfe und Herrscher treten als Bauherren auf: „Es braucht einen Initiator, jemanden, der sagt: Ich will so etwas haben. Im Falle von Notre-Dame war das der Bischof“, sagt Schedl. Maurice de Sully wurde 1160 ins Amt berufen und verkündete, dass er die alte Kirche Saint-Etienne abreißen lassen und an ihre Stelle ein Denkmal für die Jungfrau Maria errichten wolle. Die Kunsthistorikerin: „Der Bischof wollte alle seine Kollegen übertrumpfen, die rundherum Kathedralen gebaut haben.“
Weil die neue Art zu bauen, allgemein gefiel, verbreitete sie sich schnell. Denn Steinmetze und Handwerker zogen von Baustelle zu Baustelle. Wie der eingangs erwähnte Wilhelm, der nach 15 Jahren Ausbildung in Saint-Denis auf Wanderschaft ging. Seine Reise ist historisch nicht belegt, aber sehr wahrscheinlich. Um 1156 wurde Wilhelm die rechte Hand des Baumeisters in Sens, wo eine weitere gotische Kirche entstand.
Auch der Orden der Zisterzienser spielte eine große Rolle bei der Verbreitung der Kathedralenbaukunst, weiß Schedl: „Wenn zum Beispiel in Italien, England oder Deutschland ein Kloster gegründet wurde, brachten die Geistlichen ihre eigenen Bauleute aus Frankreich mit.“ Und als 1174 die Kathedrale von Canterbury durch einen Brand zerstört wurde, fragte man viele Kunstfertige aus Frankreich und England um Rat für den Wiederaufbau. Darunter: Wilhelm von Sens, der nach England übersiedelte. Und mit ihm die Gotik. Mittelalterlicher Wissenstransfer eben.
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