Wir scheiben den 30. Jänner 1933. Schlag 10:30 Uhr verlassen Hitler und Göring den „Kaiserhof“ in Berlin, um mit einem Acht-Zylinder-Mercedes die paar Meter zum Reichstag zu fahren. Die NSDAP hat einige hundert Claqueure zum Hotel geschickt, um Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zu bejubeln. Doch die Massen stehen ganz woanders, denn am selben Tag beginnt der Winterschlussverkauf, damals „Weiße Wochen“ genannt. Tisch- und Leibwäsche gibt es für einige Pfennige, sogar Lebensmittel werden zu „Sensationspreisen“ verkauft.
Als die Nationalsozialisten in den 1930ern die Macht übernahmen, hatte der Schlussverkauf längst Tradition. „Saisonverkäufe sind sehr alt, sie dienten schon immer dazu, Ware loszuwerden, auf der Händler sonst leicht sitzen bleiben“, weiß der Innsbrucker Wirtschaftshistoriker Wolfgang Meixner.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stürzten sich unsere Urgroßmütter Ende Jänner in den „Mantelwochen“ ins Warengetümmel. Das Verramschen der Ware kam im Kielwasser eines drastisch veränderten Konsumverhaltens daher.
Als 1869 das Au Bon Marché als erstes Warenhaus Europas seine Türen öffnete, standen die staunenden Menschen Schlange. Unter einer kühnen eisernen Stützkonstruktion fanden sie sich auf einer Verkaufsfläche größer als sieben Fußballfelder wieder. Ein schier unermessliches Warenangebot wartete: Modeartikel, Haushaltswaren, Schreibutensilien, Spielzeug. Und das zu so günstigen Preisen, wie sie keiner der umliegenden kleinen Händler anbieten konnte.
Massenware
„Der Hintergrund der Entstehung der Warenhäuser war die industrielle Produktion. Handwerk wurde von Massenproduktion abgelöst. Fortan wurde nicht mehr nach Auftrag, sondern auf Vorrat produziert“, analysiert Meixner. Große gesellschaftliche Veränderungen waren die Folge. Und übervolle Lager. Zum Saisonende musste alles raus, schließlich mutierte der neueste Trend bis zum nächsten Jahr zum alten Hut. Der Ausverkauf war geboren.
Erstes Gesetz
Wobei natürlich die Gefahr bestand, dass jeder Händler tat, was er wollte. Unlauterer Wettbewerb stand im Raum. Denn: „Das Ende des Zunftzwangs 1859 hinterließ eine Regelungslücke“, sagt Meixner. „Doch bereits am 16. Jänner 1895 trat das erste Gesetz, das die Ausverkäufe regelte, in Kraft.“ Saisonausverkäufe wurden erst 1933 im Gesetz erwähnt – um sie auszunehmen (sie fänden ohnedies nur zu bestimmten Zeiten im Jahr statt, daher sei durch sie keine Schädigung des normalen Geschäftsbetriebs zu befürchten).
In Zeitungsannoncen bewarb man bald nach Weihnachten Mantel- und Weiße Wochen. 1911 vermeldete beispielsweise die Illustrierte Kronen-Zeitung auf Seite 8: (Großes Aufsehen.) Schlußverkauf nur 3 Tage. Kostüme 7 K, Blusen 1.30 K, Teppichreste 30 h, Handschuhe 28 h, im Warenhaus Adler, 18. Bez., Währingerstraße 84.
Kaufrausch im SSV
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs begann mit dem Wirtschaftswunder eine neue Ära der Warenhäuser. Sie vollenden, was ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert begonnen hatten: Waren und Konsum für alle. Und zwei Ausverkäufe pro Jahr – Saisonschlussverkauf genannt – als Erlebnis-Highlight auch für den kleinen Mann. SSV – jahrzehntelang sorgten diese drei Buchstaben bei Verbrauchern für Anfälle von Kaufrausch. 14 Tage, die für den Handel mit die wichtigsten des Jahres waren. Bis in die 1970er Jahre.
Mittlerweile ist der Glanz früherer Jahre verloren. Der Grund: Das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb wurde nach und nach gelockert. Seit 2013 sind Saisonverkäufe jederzeit und für alle Warengruppen erlaubt. Mantelwochen und SSV sind aus den Kaufhäusern und dem Vokabular gewichen. Heute schnäppchenjagt man ohnedies online und nennt es Sale, Supersale oder Black Friday .
Eines ist aber gleich geblieben: „Man wird auch den Internethandel regulieren müssen“, meint Wirtschaftshistoriker Meixner.
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