In den vergangenen Jahren habe sich die Bedeutung von 1945 verschoben. Die Opfer-Erzählung von 1945 sei out. „Man hat eine ehrlichere Perspektive darauf bekommen“, sagt Benedik.
Damit wurde auch offenbar, dass im Frühling vor 75 Jahren Zigtausende Menschen auf Todesmärschen durch Österreich ermordet wurden – „nicht von externen, sondern von lokalen Tätern. Dahinter steht eine größere Frage, die die ganze Menschheit betrifft: Wann wird jemand zum Mörder, und wann regt sich Widerstand?“, fragt der Historiker.
Frage nach dem Warum
„Die psychologische Komponente – was Menschen dazu treibt – wird in der Forschung derzeit heftig diskutiert“, sagt auch Heidemarie Uhl, Historikerin der Akademie der Wissenschaften. „Die Täter sind keine Bestien, die plötzlich vom Himmel fallen, sondern normale Menschen, die nie einem anderen etwas zuleide getan hätten, wenn die Umstände nicht gewesen wären, wie sie eben waren.“ Es gäbe verschiedene Erklärungsansätze, etwa den Gruppenzwang. „Oder die Gefahr, dass man selbst zum Opfer wird, wenn man menschlich handelt.“ So versuchten Leute, abgeschossene Flieger zu schützen – und verschwanden. Denunziert vom Volkssturm.
Uhl hat diese Verdichtung der Gewalt, die Lynchmorde und Treibjagden, denen 30.000 Menschen zum Opfer fielen, aufgearbeitet. „Endphaseverbrechen“ ist der Name dieses Forschungszweigs, der sich seit 2005 entwickelt hat.
Die Politik der verbrannten Erde wurde von ganz oben verordnet. „Hitlers Nero-Befehl lautete: Wenn schon untergehen, dann so blutig wie möglich, den Feinden nur ja keine Infrastruktur lassen. In mehr als 100 Orten in Österreich sind Verbrechen nachgewiesen“ (siehe auch Grafik unten).
Andererseits sei die Politik der verbrannten Erde vielerorts reine Rhetorik gewesen, weiß Benedik: „Vor allem Frauen entlarvten die militärisch weitgehend sinnlosen Panzersperren, indem sie alles fotografierten.“ Diese Bilder führen die Durchhaltepropaganda vor und werden in der aktuellen Webausstellung ebenfalls gezeigt.
Demokratie begann
Wird mancherorts wochenlang gekämpft, werden andere Regionen friedlich übergeben. Die Besetzung durch die Alliierten löst teils Panik oder gar Gewalt aus, obwohl sie Terror sowie Chaos beendet und den Aufbau demokratischer Institutionen einleitet.
Der Beginn des demokratischen Lebens in Österreich, die Ausrufung der Zweiten Republik, hat übrigens keine fotografische Ikone. Symbolisch für den Frühling 1945 steht stattdessen das Bild des brennenden Stephansdom. Geschossen ausgerechnet von jenem Fotografen, der im März 1938 die bis heute am häufigsten abgedruckte Aufnahme der „Anschluss“-Rede am Heldenplatz gemacht hatte. 1945 sei also nicht nur das Endes des Krieges, sondern auch eine Kontinuität, sagt Stefan Benedik: „Weil sich Ideologien nicht einfach an der Garderobe abgeben lassen.“
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