„Wissenschaft muss der Seele mehr Platz einräumen“
Schmerzen in der linken Körperhälfte – Herzinfarktsymptome, denkt Walter W. Aber weder praktischer Arzt noch Internist finden dafür organische Anzeichen. Die Schmerzen bleiben dennoch, monatelang. Und der Mittfünfziger wird immer verzagter. Fühlt sich unverstanden, holt Zweit- und Drittmeinungen ein. Das Ergebnis ist immer dasselbe: „Sie haben nichts. Alles in Ordnung.“
Für Walter W. ist gar nichts in Ordnung. Seine Schmerzen empfindet er tatsächlich. „Patienten haben ein Recht, verstanden zu werden“, sagt Prim. Manfred Stelzig, Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut. Er leitet die Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Salzburg und hat dort tagtäglich mit Patienten wie Walter W. zu tun. In seinem heute, Dienstag, erscheinenden Buch geht er dem Phänomen dieser sogenannten „somatoformen Krankheitsbilder“ auf den Grund. Stelzig – er ist auch Lehrbeauftragter an der privaten Medizinischen Paracelsus-Universität in Salzburg – fordert ein radikales Umdenken bei allen Beteiligten. „Seit mehr als 20 Jahren wissen wir um die Dynamik psychosomatischer Erkrankungsprozesse. Aber diese wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse finden keinen Eingang in die Organmedizin.“ Viele Kollegen seien ebenso überfordert wie der Patient, besonders im straffen Zeitkorsett vieler Arztpraxen. Gesprächszeit werde vom Gesundheitssystem nicht honoriert.
„Die Wissenschaft muss der Seele endlich mehr Platz einräumen. Der Schmerz ist ja wie ein Schrei der inneren Persönlichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Damit sie sich öffnen kann, braucht sie Zeit und Zuwendung.“
Eigenverantwortung
Stelzig entlässt auch die Patienten nicht aus ihrer Eigenverantwortung. „Sie klammern sich sehr an ihre körperlichen Symptome, die Psyche ist verpönt. Der Mensch hat ein Kausalitätsbedürfnis und braucht eine Erklärung, um etwas zu akzeptieren. Es ist aber sehr wichtig, die Ursprünge der Psychosomatik zu verstehen. Sie reichen bis ins Babyalter zurück – bei jedem Menschen.“
Warum haben Sie als Mediziner eine Anklageschrift verfasst? Was klagen Sie an?
Ich sehe eine dringende Notwendigkeit eines Umdenkens. Wir brauchen einen Schulterschluss aller Beteiligter - Ärzte, Patienten und des Gesundheitssystems. Sonst ändert sich wieder nichts, weil an den entscheidenden Stellen die Weichen nicht richtig gestellt werden.
Was meinen Sie genau?
Es muss auf allen Ebenen aufgeklärt werden. In der Wissenschaft ist die Dynamik pschosomatischer Beschwerden schon seit 20 Jahren bekannt und auch wissenschaftlich fundiert. In die Praxis hat es aber kaum Eingang gefunden. In der medizinischen Ausbildung zum Allgemeinmediziner sind gerade einmal zwei Monate für psychische Krankheiten vorgesehen. Im Praxisalltag betreffen sie aber längst zehn bis 20 Prozent aller Diagnosen.
Dazu kommt ein Mandel an Fachärzten und Psychotherapeuten. Hier wäre auch das Gesundheitssystem gefordert. Wir bräuchten Wissen, gepaart mit Zeit und Engagement. Da dies nicht honoriert wird, fragen sich viele Kollegen, ob diese Arbeit überhaupt ist. Ich erlebe tagtäglich, dass wir unseren verzweifelten Patienten zuerst einmal die Funktion der Psyche erklären müssen. Das ist durchaus möglich - und sehr oft ermöglicht das ein großes Aha-Erlebnis und Verständnis für die eigenen Beschwerden. Diese eine Stunde müsste man sich Zeit nehmen - und sie müsste etwas wert sein.
Die eigentlich Betroffenen und die Bevölkerung allgemein können im derzeitigen System nichts mit Allerweltstipps oder mit Sätzen wie "Sie haben nichts, organisch ist alles in Ordnung" anfangen. Sie fühlen sich unverstanden, verunsichert und holen mehrere Meinungen ein. Das führt wiederum zum Phänomen des "Doctor-Hopping", weil kein Arzt dem Patienten eine erschöpfende, nachvollziehbare Diagnose für seine realen Beschwerden liefert. Vor allem ändern sie dadurch aber ihre Sichtweise nicht. Das wäre jedoch für einen Behandlungserfolg wesentlich.
Aber wie kann diese Sichtweise verändert werden?
Zuallererst müssen die Betroffenen von gut ausgebildeten Ärzten aufgeklärt werden. Die Seele ist nichts Nebuloses, sondern etwas, das jeder spüren kann. Gibt es hier Defizite, kann sich das körperlich auswirken. Der Mensch hat ein Kausalitätsbedürfnis. Er braucht eine entsprechende Erklärung, die er auch akzeptieren kann. Diese Erklärung muss aber sehr klar sein. Allerdings ist noch immer viel zu wenig von psychosomatischen Phänomenen bekannt. Den Begriff "somatoforme Störung" kennt kaum jemand. Bulimie oder Anorexie betrifft prozentuell viel weniger Menschen, die Begriffe sind aber allgemein bekannt.
Dann geht es darum, die Selbstheilungskräfte zu stärken. Denn jeder Mensch hat sie und vieles heilt auch tatsächlich. Aber man muss wissen, dass es dafür verschiedene Voraussetzungen braucht.
Welche Voraussetzungen zum Beispiel?
Es gibt einige grundlegende Dinge, wie man selbst wieder heil wird, etwa einen positiven Dialog, Vertrauen, Selbstfürsorge. Ohne dass man auch selbst Verständnis für die eigenen psychischen Strukturen entwickelt, geht es nicht. Wir wissen aus Magnetresonanz-Untersuchungen heute ganz genau, wie sich Emotionen im Körper widerspiegeln. Wut äußert sich beispielsweise als körperliches Symptom, die Evolution hat das mit Kampfverhalten und Aggression gepaart. Da wird durch die Anspannung u. a. der Muskeltonus erhöht, was im Fall einer somatoformen Störung wiederum körperliche Schmerzen verursacht. Es ist auch notwendig, Konflikte zu klären. Besonders, wenn sie vielleicht schon lange zurückliegen.
Welche Rolle spielen Psychopharmaka in der Diagnose?
Auch hier hilft es, die Hintergründe im Gehirnstoffwechsel zu verstehen. Durch körperliche oder seelische Belastungen kann etwa ein Mangel des Glückhormons Serotonin ausgelöst werden, was wiederum zu Schmerzzuständen unterschiedlichster Art führen kann. Jeder Mensch kann solche Mangelzustände erleiden, alte Vorurteile über moderne Medikamente können ausgeräumt werden.
Was hilft noch, um die Dynamik hinter somatoformen Störungen zu erkennen und zu verändern?
Ich versuche zu vermitteln, dass es nicht um eine Bekämpfung des bisherigen Verhaltens geht. Ich erlebe sehr oft, dass allein das Wissen um die Hintergründe einiges in Bewegung setzt. Es geht um ein Verstehen, Durchschauen und Dazulernen. Beschwerden auf der seelischen Ebene sind kein Zeichen von Schwäche, das ist sehr schwer zu vermitteln. Auch hat Psychosomatik nichts mit Einbildung zu tun. Die Ursprünge der Psychosomatik liegen im Babyalter. So gesehen ist das Füttern und die Interaktion mit einem Baby bereits psychosomatische Schulung - denn zu diesem Zeitpunkt ist die Verbindung zwischen Psyche und Körper so direkt wie kaum sonst in einem Lebensalter. Im Sinne eines Körpergedächtnisses prägen frühkindliche Erlebnisse das psychosomatische Wohlbefinden. Beispielsweise geht das Füttern bei Babys weit über die reine Nahrungsaufnahme hinaus - es besteht eine enge Interaktion zwischen Körper- und Gefühsebene, ebenso wie bei Kinderspielen wie "Bauchi blasen" oder "Krabbelt ein Mäuschen über das Häuschen..."
Prim. Manfred Stelzig ist Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut. Er leitet die Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Salzburg.
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