"Wir verspielen unser langes Leben"

"Wir verspielen unser langes Leben"
Die Österreicher leben länger als viele EU-Bürger, werden aber früher krank: Wie es um unsere Gesundheit wirklich steht.

Die Österreicher sind zu bequem, um etwas für ihre Gesundheit zu tun und sie werden immer dicker: So lassen sich – zugespitzt – die Ergebnisse von zwei Studien zusammenfassen, die in den vergangenen Wochen durch die Medien gegangen sind. Univ.-Prof. Anita Rieder , Leiterin des Instituts für Sozialmedizin der MedUni Wien, erklärt, wie es um die Gesundheit der Österreicher steht.

KURIER: Laut jüngstem Ernährungsbericht sind bereits 40 Prozent der Erwachsenen übergewichtig. Hat Sie dieses Ergebnis überrascht?

Anita Rieder: Nein, überhaupt nicht, wir liegen damit im internationalen Trend. Das Institut für Sozialmedizin hat mit der Sozialversicherungsanstalt der Bauern die Ergebnisse einer Gesundheitsbefragung unter mehr als 12.000 Bäuerinnen und Bauern veröffentlicht. Knapp 20 Prozent der Frauen und Männer waren stark übergewichtig. Was auffällig war: Gegenüber 2000 hat sich diese Gruppe vergrößert. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen positiven Gesundheitstrend zu weniger Alkohol, weniger Rauchen und mehr Bewegung. Das Beispiel zeigt für die Präventionsarbeit: Wir dürfen uns nicht nur auf die Normalgewichtigen stürzen, sondern wir müssen uns auch darum kümmern, dass die bereits Übergewichtigen nicht noch übergewichtiger werden.

"Wir verspielen unser langes Leben"

Aber sollte das nicht schon jeder wissen, dass massives Übergewicht ein Risikofaktor für viele Krankheiten ist?

So einfach ist es nicht. Kein Mensch sagt: Ich werde jetzt dick, das ist ja keine rationale Entscheidung. Es haben sich in den vergangenen 30, 40 Jahren auch nicht unsere Gene verändert, sodass wir heute anfälliger für Übergewicht wären als früher. Was sich verändert hat, sind die Umweltbedingungen: Es gibt heute Tausende Möglichkeiten, zu Fast Food zu kommen, Nahrung ist immer und überall verfügbar und das Frühstück findet immer öfter auf der Straße statt. Gleichzeitig wird das gemeinsame Essen in der Familie seltener. Wenn Kinder aus Familien kommen, in denen gesundes Essen keinen besonderen Wert darstellt, dann braucht es schon ein besonderes Maß an persönlichen Widerstandsressourcen, all diesen Einflüssen zu widerstehen. Deshalb ist es auch falsch, stark Übergewichtige als willensschwach hinzustellen. Wir dürfen diese Menschen nicht auf ihr Gewicht reduzieren und stigmatisieren.

Wie kann man gegensteuern?

Das Risiko für Adipositas ist in der Bevölkerungsgruppe mit dem niedrigsten Bildungsniveau um mehr als das Doppelte höher als in der Gruppe mit dem höchsten. Bei Frauen sind diese Unterschiede sogar noch etwas größer als bei Männern. Auch die Entstehung von Diabetes und Bluthochdruck hängt bei Frauen stärker als bei Männern mit dem Bildungsgrad zusammen. Wir müssen uns viel stärker speziell um benachteiligte und besonders gefährdete Gruppen kümmern, die wenig Bildung und wenig Gesundheitskompetenz haben.

Donnerstag regte der Weltbank-Chefberater für Gesundheitsfragen beim European Health Forum Gastein "Sündensteuern" auf zucker- und fettreiche Speisen an.

Bisher konnte nur bei Tabaksteuern gezeigt werden, dass damit das Verhalten verändert werden kann. Bei einer Fettsteuer steht dieser Beweis aber noch aus. Deshalb muss man sich genau überlegen, welche Strategien man wählt, damit erwartete Steuerungen des Konsumverhaltens auch dauerhaft und nicht nur kurzfristig eintreten. Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Steuerung ist hingegen die Verordnung für eine Beschränkung der Transfettsäuren in Österreich (maximal zwei Prozent künstliche Transfettsäuren im Gesamtfett, Anm.) .

"Wir verspielen unser langes Leben"

Beim Anteil der 15-Jährigen, die mindestens ein Mal wöchentlich rauchen, liegt Österreich auf Platz drei von 40 Nationen, beim Alkoholkonsum auf Platz fünf.

Man darf die Jugend nicht vorschnell stigmatisieren, nach dem Motto, das sind alles schwere Raucher und Komasäufer. So ist es nicht, wenn man genauer hinschaut: In polytechnischen Schulen rauchen bis zu 70 Prozent der Jugendlichen, in Oberstufengymnasien sind es zehn, maximal 20 Prozent. Es gibt erfolgreiche Pilotprojekte, um die Gesundheitskompetenz männlicher Berufsschüler zu fördern – etwa durch sogenannte Peers, speziell ausgebildete gleichaltrige Jugendliche, die ihre Sprache sprechen und in die Klassen gehen. Aber es fehlt die langfristige Finanzierung. Diese sozialen Ungleichheiten zu beheben, muss Aufgabe der gesamten Politik sein. Einen Schritt in diese Richtung sehe ich in den zehn Rahmen-Gesundheitszielen, die vor Kurzem beschlossen wurden. Sie sollen die Zahl der gesunden Lebensjahre bis 2020 um zwei erhöhen. Chancengerechtigkeit und Maßnahmen für höhere Kompetenz in Gesundheitsfragen sind dabei ganz zentrale Punkte.

In einer Karmasin-Umfrage gaben kürzlich 43 Prozent der Befragten an, "aus Bequemlichkeit" nicht mehr für ihre Gesundheit zu tun.

Ja, aber Bequemlichkeit heißt: Ich bin zu müde dafür. Ich war ohnehin den ganzen Tag aktiv und will mir jetzt nicht schon wieder etwas überlegen müssen. Der ehrliche Umgang mit dem Thema ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Sind die Österreicher kränker als andere Nationalitäten ?

Wir sind früher chronisch krank als die Menschen in vergleichbaren Ländern in Europa. Damit verspielen wir unser langes Leben, unseren Überlebensvorteil, den wir durch unsere höhere Lebenserwartung als der EU-Durchschnitt haben. Bei Frauen zeigt sich das besonders: Sie profitieren – im Gegensatz zu anderen Ländern – überhaupt nicht von ihrer gegenüber den Männern deutlich längeren Lebenserwartung. Frauen haben zwar generell im Alter ein höheres Risiko für bestimmten chronische Erkrankungen wie etwa Osteoporose oder Gelenksbeschwerden als Männer. Aber in Österreich ist ihre Krankheitshäufigkeit noch höher als im EU-Schnitt.

Mehr zur KURIER-Aktion "Leser am Wort" erfahren Sie hier.

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