Warum wir die Dunkelheit brauchen

Die Welt ist ein Lichtozean, in dem das Dunkel ertrinkt.
Die Nacht auf morgen ist die längste des Jahres. Doch die zunehmende Lichtverschmutzung nimmt immer mehr vom Zauber der Finsternis.

Nichts ist zu sehen, außer die Milchstraße, wenn Barbara Brown Taylor nächtens eine Wanderung über ihre Farm in Georgia macht. Was so selbstverständlich klingt, ist es längst nicht mehr: Die Welt ist ein Lichtozean, in dem das Dunkel ertrinkt. "Sky glow" (Lichtverschmutzung) nennt es die Wissenschaft und weiß, wie negativ sich das ewige Leuchten auf Pflanzen, Tiere und Menschen auswirkt. Darüber hat sich die US-Religions-Professorin Barbara Brown Taylor Gedanken gemacht und "Learning to walk in the Dark" geschrieben. Die Botschaft ihres Buches – es stand monatelang auf der New York Times Bestsellerliste – ist einfach: Umarme die Dunkelheit.

Hoher Preis

"Wir zahlen einen hohen Preis für unseren hellen Wahnsinn, denn wir sind lichtkranke, humanoide Motten, geblendet von der Helligkeit unserer Straßen, Autos, Bildschirme, Leuchtreklamen." So lautet Taylors These. Mittlerweile seien wir von Ängsten gezeichnet, die mit Finsternis assoziiert sind. Dunkelheit ist ein Zustand der Seele, den niemand auf Dauer vermeiden kann. Symbolisch repräsentiert sie die Katharsis der Seele. Denn Leben heißt, in der Dunkelheit bestehen zu können. "Wenn wir im Dunklen laufen lernen, kann dies zu Weisheit führen, zum Abstand von Ängsten, zur Entwicklung des Selbst ohne Kontrollwahn", sagt Taylor, die 2014 vom Time Magazin unter die 100 einflussreichsten Persönlichkeiten gewählt wurde.

Auch der Trendforscher Mathias Horx ist überzeugt, dass "die Lux- und Lumen-Revolution gerade die Wiederentdeckung der Dunkelheit auslöst" und hat dem dunkeln Trend ein Kapitel im Zukunftsreport 2017 gewidmet. "Schon unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren richteten Bauwerke nach den Sternen aus. In fernes Licht zu schauen, hat immer einen spirituellen Erkenntniswert", sagt Horx. "Die Ehrfurcht vor dem fernen Licht in der Dunkelheit erzeugt eine Demut, eine kosmische Ehrfurcht, die das Ego relativieren kann. Und das scheint es, was Menschen heute wieder suchen." Wie anders lässt es sich erklären, dass Sternenparks entstehen, Nachtwanderungen boomen und Reisen in dunkle Regionen gut gebucht sind.

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Sternenlichtoasen

Österreicher haben es gut: Sie brauchen, wenn sie im Dunkeln lernen wollen, nicht weit zu reisen. Messungen haben gezeigt, dass das Lichtniveau im Wildnisgebiet Dürrenstein an der Grenze Niederösterreich-Steiermark dem natürlichen Licht in der von Lichtverschmutzung praktisch völlig ungestörten chilenischen Atacamawüste entspricht. Und auch Großmugl, keine 50 Kilometer von der Lichtmetropole Wien entfernt, liegt nur wenig schlechter. Kein Wunder, dass sich die "Sternenlichtoase" um Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste bemüht – damit wäre erstmals das Sternenlicht ins Welterbe eingebettet.

Forscher wissen längst, dass Licht zur Unzeit unsere Gesundheit beeinträchtigt. Und wie es die Tierwelt durcheinanderbringt. "Licht beeinflusst den Schlaf-Wach-Rhythmus stärker als jedes Medikament", sagt der Schweizer Chronobiologe Christian Cajochen. "Auch kleinste Lichtquellen stören." So weiß man, dass das leuchtende Handy, weil es meist einen viel zu hohen Blauanteil hat, schlaflos macht. Es verhindert, dass das Schlafhormon Melatonin ausgeschüttet wird. Fatal, denn Melatonin ist ein Anti-Oxidant, das Zell-DNA vor Beschädigungen schützen kann. Mittlerweile wissen Forscher, dass die Melatonin-Werte mit der Empfindlichkeit für bestimmte Krebsarten korreliert.

Licht aus!

Zu viel Nachtlicht irritiert auch die Natur mehr als Chemikalien. Vögel, Insekten, selbst Fische und Amphibien navigieren nach dem Sternenhimmel. Was passiert, wenn sie durch künstliche Lichtquellen gestört werden, zeigt sich alljährlich im September in New York. Da werden riesige Flakscheinwerfer in den Himmel gerichtet – zum Gedenken an die Opfer des 11. September, und Zehntausende Zugvögeln umkreisen die Lichtsäule, kollidieren mit umliegenden Gebäuden, stürzen ab.

Derzeit steht die industrialisierte Welt vor der Umstellung auf LED-Beleuchtung. "Wenn wir nicht sehr genau auf das LED-Spektrum und die Beleuchtungsstärken achten, könnte das zu einer Verdoppelung oder sogar Verdreifachung der Himmelsaufhellung in klaren Nächten führen", warnt Fabio Falchi vom Institut für die Erforschung der Lichtverschmutzung, der gerade den neuen Weltatlas der Lichtverschmutzung (Bild links) veröffentlicht hat.

"Smart Lights"

Viele Länder reagieren bereits: Büro- und Schaufenster-Beleuchtungen werden per Gesetz beschränkt, Lampen werden nach oben abgeschirmt, gedimmt, zeitlich begrenzt und nur in dem Bereich eingesetzt, wo sie wirklich nötig sind. Kopenhagen ist da Vorreiter, hat in den vergangenen Jahren 21.000 neue "Smart Lights" in seinen Straßenzügen installiert. Wenn ein Auto, ein Fußgänger oder ein Fahrradfahrer die Straße entlangkommt, schaltet sich das Licht automatisch ein und aus, oft sogar stufenlos. Und folgt der Bewegung des Objekts. Zürich setzt mit seinem "plan lumiere" auf sanfte, adaptive Beleuchtung historischer Gebäude.

Auch Österreich dreht vermehrt den Dimmer runter: In Oberösterreich ist seit Sommer eine digitale Karte der Lichtemission abrufbar – eine Weltneuheit. Außerdem wurde im ganzen Land ein Lichtmess-Netz mit 23 Mess-Stationen installiert. Weil alles mit Bewusstsein für das Problem beginnt, will die Umweltanwaltschaft Tirol mit dem Projekt "Helle Not" (www.hellenot.org) und im kommenden Jahr mit einer Wanderausstellung auf dieses Thema aufmerksam machen. Außerdem wurde ein Prototyp umweltschonenderer Beleuchtung entwickelt: Die LEDs mit wärmerem Licht werden bereits getestet – auf den Skipisten im Kühtai.

Wie es scheint, gehen die Menschen in Europa freiwillig einen Schritt zurück ins Dunkel. Gut so!

Die Top Ten der Sternen-Hotspots

1. Sahara
2. Namibia-Wüsten
3. Das Leere Viertel, Arabische Halbinsel
4. Atacama-Wüste, Chile
5. La Palma, Kanaren
6. Himalaja
7. Vulkane in Hawaii
8. West-Australien
9. Alpen
10. Wyoming, Yellowstone National Park

Buchtipp

Es gibt immer mehr Indizien dafür, dass der „Sieg des Lichts über die Nacht“ uns nicht nur den Sternenhimmel raubt, sondern zunehmend Probleme macht. In ihrem neuen Buch „Rettet die Nacht“ halten die Autoren Mathias und Tanja-Gabriele Schmidt ein Plädoyer für die Dunkelheit.

„Rettet die Nacht. Die unterschätzte Kraft der Dunkelheit“, Riemann Verlag, 21,99 €

Warum wir die Dunkelheit brauchen
Rettet die Nacht von Mathias R Schmidt

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