Milgram-Experiment: Gehorsam bis zum bitteren Ende

Milgram-Experiment: Gehorsam bis zum bitteren Ende
Eine Wiederholung des umstrittenen Versuchs zeigt erneut: Menschen sind bereit, andere zu quälen. Was Sozialpsychologen zum Prinzip "Gehorsam" sagen.

"Freiwillige ProbandInnen für ein Experiment über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit" gesucht. Mit dieser Anzeige in einer Lokalzeitung der US-Kleinstadt New Haven suchte die Universität Yale Anfang der 1960er-Jahre Personen für einen Versuch des Sozialpsychologen Stanley Milgram. Was sie nicht ahnen konnten: Dass Milgram in Wirklichkeit die Autoritätshörigkeit von Menschen testen wollte.

"Sie haben keine Wahl"

Die Versuchspersonen schlüpften in die Rolle des Lehrers, ein Eingeweihter aus dem Forscherteam übernahm jene des Schülers. Dieser wurde im Nebenraum an einen Sessel gebunden, mit Elektrode am Handgelenk. Die Versuchsperson wurde indes vor einen Schockgenerator gesetzt und erhielt vom Leiter des Experiments den Auftrag, den "Schüler" zu testen. Bei jeder falschen Antwort solle er ihm schließlich einen Elektroschock verpassen – anfangs 15 Volt. Jede falsche Antwort bedeutete eine Steigerung des Stromschlags um 15 Volt, bis zur Stärke von lebensbedrohlichen 450 Volt. "Bitte fahren Sie fort", "das Experiment verlangt, dass Sie fortfahren", "Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitertun" – so lauteten die Anweisungen des Versuchsleiters für Verweigerer und Zweifler.

"Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte", notierte Milgram im Jahr 1974 rückblickend. Der Test entpuppte sich schließlich als Blick in den Abgrund der menschlichen Seele. In einer ersten Versuchsrunde ohne Rückmeldung des Schülers gaben alle Versuchsperson sämtliche geforderten (Schein)- Schocks bis zum Ende der Skala. Selbst bei Rückmeldungen des "Schülers" (Stöhnen, Protest, Brüllen) ordneten sich die Versuchspersonen der Anordnung unter. Zwar kam es zu Widerspruch, doch letztendlich ging das Gros bis zur Bestrafung von 300 Volt. Erst bei 300 und 375 Volt verweigerten 14 Personen die weitere Teilnahme am Experiment, zwei Drittel setzten den Versuch bis zum stärksten Stromschlag fort. Zwei von drei Probanden verabreichten gar Stöße der potenziell tödlichen Stärke von 450 Volt – vorausgesetzt, der Versuchsleiter trieb sie an.

Der Folterknecht im Menschen

Der Versuch, der als "Milgram-Experiment" in die Geschichte eingehen sollte, sorgte für Aufsehen und Entsetzen. Er wurde über viele Jahrzehnte in Varianten wiederholt, wie nun aktuell an der SPWS Universität in Wrocław, Polen. Auch diesmal kam es zu einem ähnlich bedrückenden Ergebnis: Die meisten Menschen – Frauen wie Männer – sind unter Druck bereit, einen anderen Menschen zu quälen. Fazit des Studienleiters Tomasz Grzyb: "Auch wenn sich die Gesellschaft geändert hat, ist selbst ein halbes Jahrhundert nach Milgrams Experiment noch immer eine erstaunliche Mehrheit von Versuchspersonen dazu bereit, einem hilflosen Mitmenschen Elektroschocks zu verabreichen." Was sagt das über den Menschen? Gibt es so etwas wie blinden Gehorsam? Und steckt in jedem Menschen ein Folterknecht, der auf seinen Moment wartet?

Evolutionäres Erbe

Gehorsam gehört offensichtlich zur Grundausstattung von Homo sapiens. "Menschen sind von Geburt an mit Werkzeugen ausgestattet, die sich im Laufe der Evolution als funktional im Hinblick auf das Überleben gezeigt haben. Zu diesen Werkzeugen gehören auch Reaktionsmuster in sozialen Situationen. Einem Experten, also einer Person, die im Hinblick auf Wissen überlegen ist, zu folgen, ist zunächst nicht verkehrt", sagt der Sozialpsychologe Univ.-Prof. Arnd Florack. Gruppen könnten auf diese Weise effektiv zusammenarbeiten. Doch in Experimenten wie dem Milgram-Versuch zeige sich die Kehrseite dieser sozialen Funktion: "Leider werden auch in der Realität Menschen genau in dieser negativen Art und Weise beeinflusst. Unser Wissen über das Verhalten von Menschen in Kriegssituationen, wie etwa im Zweiten Weltkrieg, aber auch aktuell, zeigt diese negativen Einflüsse und deren starke Wirkung."

Die Macht der Autorität erklärt Florack so: "Menschen nutzen die Urteile von anderen Personen, um zu einem eigenen Urteil zu kommen. Sie konstruieren so eine soziale Realität. In der Situation des Milgram-Experiments ist den Versuchspersonen anfangs nicht klar, was passiert. Sie folgen daher dem Experten." Dazu komme der Sog der Gruppe, ebenfalls ein evolutionäres Erbe: "Der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe war für das Überleben unserer Vorfahren ungünstig, und das schmerzt noch heute sehr." Um blinden Gehorsam gehe es aus seiner Sicht dennoch nicht: "Viele Menschen fühlen sich in Situationen schlecht, in denen autoritäre Führung ausgeübt wird. Sie finden jedoch den Ausweg aus der Situation nicht. Sobald ihnen dieser Ausweg gezeigt wird, nehmen sie ihn dankbar an." Zivilcourage zählt offenbar: "Widersetzt sich im Milgram-Experiment eine weitere Versuchsperson, brechen auch die anderen mit großer Wahrscheinlichkeit ab."

Tun, was zu tun ist

Milgram-Experiment: Gehorsam bis zum bitteren Ende

Gehorsam lernt der Mensch bereits in der Kindheit – über die Prinzipien Lob/Tadel. Dass er per se nichts schlechtes sei, betont auch Andreas Olbrich-Baumann, ebenfalls Sozialpsychologe: "Nehmen Sie etwa ein Gasgebrechen in der Stadt oder die Rettungsgasse bei einem Unfall auf der Autobahn. Hier den Anweisungen einer Autorität zu folgen, ist sinnvoll." Dass die Menschen in den Versuchen so weit gehen, hänge Erkenntnissen zufolge etwa mit dem Faktor Bindung zusammen: "Man verhält sich so, weil man dem Versuchsleiter einen Gefallen tun und der Wissenschaft etwas Gutes tun möchte. Weil es wichtig scheint." Zudem zeigte sich, dass die Versuchspersonen so in ihrem Tun waren, dass sie die Konsequenzen dieses Tuns nicht mehr realisierten. "Das nennt man ,agentic state‘ – man tut nur mehr, was zu tun ist", so der Sozialpsychologe. Bedrückender Nebenaspekt: Studien zufolge braucht es nur fünf bis sieben Wiederholungen desselben Verhaltens, bis jemand gehorsam ist. Laut Olbrich-Baumann sei hier weniger die Persönlichkeit ein Faktor, als vielmehr die Situation selbst. Man nennt das "Power of the Situation" (Kraft der Situation). Interessant: Je abstrakter oder distanzierter in dieser Situation das Opfer wahrgenommen wird, desto gnadenloser wird der Mensch. Drohnenangriffe in Afghanistan seien ein klassisches Milgram-Setting, so Olbrich-Baumann: "Da ist eine Autorität und eine Person, die deren Befehl folgt. Der in einem Bunker der Wüste Arizonas sitzt und auf einen Knopf drückt. Je weniger Nähe zum Opfer, desto mehr Gehorsam."

Ungehorsam lernen

Gute Nachricht: Ungehorsam ist erlernbar. Sozialpsychologe Arnd Florack: "Wir können uns die Einflüsse bewusst machen und mit anderen darüber sprechen, welche Auswege es gibt. Das Milgram-Experiment zeigt, dass bei der Überwindung des sozialen Einflusses der Autorität der Einfluss weiterer Teilnehmer zentral ist, die sich widersetzen. Es wird aber niemandem leicht fallen, sich alleine autoritären Einflüssen zu widersetzen. Wir brauchen auch hier das Gemeinsame."

Milgram-Experiment: Gehorsam bis zum bitteren Ende
(GERMANY OUT) Milgram, Stanley 2007 (Psychologist) (Photo by Jan Rieckhoff/ullstein bild via Getty Images)

Er lebte vom 15. August 1933 bis 20. Dezember 1984 und wurde durch seine Arbeit zum Gehorsam gegenüber Autoritäten bekannt und studierte die Wechsel-beziehung zwischen Individuen und Gruppen sowie das Kräftespiel in Gruppen. Seine Eltern waren jüdische Immigranten. 1950 machte er mit seinem Schulfreund Philip Zimbardo den Highschool-Abschluss. Dieser wurde mit dem Stanford-Prison- Experiment bekannt, das – ähnlich wie Milgrams Experiment – zeigte, wozu Menschen in bestimmten Situationen fähig sind. Sein Leben und seine Versuche wurden verfilmt, Titel: "Experimenter". Wynona Rider spielte darin seine Frau.

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