Wie Medizinstudenten lernen, mit Patienten umzugehen

Die beiden Medizinstudentinnen Julia Halilovic (li.) und Eva Wallner mit Bibiana Fichtinger im Haus der Barmherzigkeit.
Im Haus der Barmherzigkeit "üben" angehende Ärzte Empathie, Kommunikation und Wertschätzung gegenüber älteren Patienten.

Ein schönes Modell haben Sie", sagt Julia Halilovic. "Das ist mein Mercedes", lacht Bibiana Fichtinger und zeigt auf den Rollator. Sie möchte mit ihren Besucherinnen Domino spielen. Die beiden Medizinstudentinnen Halilovic und Eva Wallner helfen der 75-Jährigen beim Aufstehen, gemeinsam gehen sie in den Aufenthaltsraum, legen die Steine auf. "Ich bin dran, ich hab aber nix. Jetzt muss ich einen Stein beim Greißler kaufen", scherzt Fichtinger. Die drei lachen.

Mittlerweile ist es fast ein Jahr her, dass die beiden Zwanzigjährigen im Haus der Barmherzigkeit in der Wiener Seeböckgasse das Praktikum "Soziale Kompetenz" absolviert haben, heute sind sie wieder zu Besuch. Für Frau Fichtinger eine schöne Abwechslung: "Nicht alle Mitbewohner unterhalten sich oder spielen gerne. Ich freu’ mich, wenn jemand vorbeikommt und ein Lächeln für mich hat."

Sensibilisieren

Wie Medizinstudenten lernen, mit Patienten umzugehen
Junge Menschen betreuen Gäste im Haus der Barmherzigkeit. Wien, 07.10.2014
Jedes Wintersemester sind das zwei bis drei Studierende pro Station und Woche. Für je zweieinhalb Stunden gehen sie mit Bewohnern des geriatrischen Pflegekrankenhauses oder der Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung spazieren, plaudern, spielen Karten oder sind einfach nur da. Ziel des Programms, das alle 750 Studienanfänger seit fünf Jahren durchlaufen, ist, die angehenden Ärzte für den Umgang mit älteren und kranken Patienten zu sensibilisieren. "Viele haben eine vage Vorstellung davon, was es bedeutet, krank zu sein. Wir wollen ihre Einstellung prägen und ihr Interesse für die Arbeit in diesem Bereich wecken", sagt Univ.-Prof. Christoph Gisinger, Lehrgangsleiter und Direktor der "Haus der Barmherzigkeit"-Gruppe. Das Praktikum ist Teil einer Lehrveranstaltung der MedUni Wien im ersten Semester, bei der grundlegende Kompetenzen vermittelt werden sollen. "Zum Anforderungsprofil eines Arztes zählt nicht nur fachliche, sondern auch soziale Kompetenz, etwa Kommunikation, Empathie und Wertschätzung gegenüber Patienten", meint Gisinger.

Zum Einstieg werden die Studenten erst einmal selbst "alt": Sie tragen im Seminar mit Watte gefüllte Handschuhe, Brillen, die das Sehen erschweren sowie Kopfhörer und bekommen kleine Aufgaben gestellt. "Man denkt immer, das geht schon. Aber es ist wirklich schwierig, sich im Alter alleine durchzukämpfen", erzählt Wallner. Auch im Alltag mit den Bewohnern stießen die Studentinnen auf schwierige Situationen, etwa als der Rollstuhl einer Bewohnerin auf der Straße zu schwer war, um ihn auf den Gehsteig zu heben. "Alle haben gehupt, die Dame im Rollstuhl wurde nervös. Ich habe versucht, sie zu beruhigen und jemanden um Hilfe gebeten. Das war sehr prägend", erzählt Halilovic. Wallner wusste bei einem Gespräch mit einer älteren Dame nicht mehr weiter. "Sie war sehr traurig und ich war unsicher, ob ich ihr zustimmen oder widersprechen soll. Ich habe ihr zugehört und intuitiv geantwortet. Das hat mir geholfen, selbstsicherer und lockerer im Gespräch mit älteren Menschen zu sein."

Aus dem Bauch

Wie Medizinstudenten lernen, mit Patienten umzugehen
Junge Menschen betreuen Gäste im Haus der Barmherzigkeit. Wien, 07.10.2014
Tipps aus dem Seminar – etwa aggressives Verhalten von Demenzpatienten nicht persönlich zu nehmen – waren für die beiden hilfreich, vieles lösten sie aber aus dem Bauch heraus. "Ich gehe jetzt offener auf Leute zu und bin einfühlsamer. Außerdem nehme ich es mir nicht zu Herzen, wenn Demenzpatienten etwas sagen, das nicht in Ordnung ist", meint Halilovic. Solche Erfahrungen werden in Reflexionseinheiten besprochen. Nicht alle tun sich leicht, manche wissen nichts mit den Patienten anzufangen oder grübeln, ob das Studium das richtige für sie ist. Das ist durchaus gewünscht. "Die Ärzte der Zukunft werden sehr stark im chronischen Bereich und mit multimorbiden Patienten arbeiten. Wir wollen den Schwerpunkt des Spitals relativieren und den Studenten möglichst viele Perspektiven ermöglichen", so Gisinger.

Bei den beiden Studentinnen hat das Seminar diese Spuren hinterlassen, auf den geriatrischen Bereich wollen sie sich aber nicht festlegen. Frau Fichtinger macht das nichts, sie freut sich, wenn Besuch kommt. Oder eine Postkarte wie von einem der Studenten, der auf ihrer Station eingeteilt war. Oder wenn zwei Studentinnen mit ihr Domino spielen, auch wenn der KURIER-Fotograf längst gegangen ist.

3600 Studierende haben in fünf Jahren am Programm teilgenommen

16 Stunden verbringen sie an fünf Tagen im Haus der Barmherzigkeit in Wien

2-3 Personen kommen jeweils auf die Stationen und in die Wohngemeinschaften

1300 Menschen leben in Wien und NÖ in den Häusern der „Haus der Barmherzigkeit“-Gruppe

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