„Wer gesund stirbt, ist auch tot“

Gelassenheit im Umgang mit körperlichen Unzulänglichkeiten ist die Devise von Lütz.
Ersatzglaube: Gesundheit hat heute bei vielen Menschen den Stellenwert einer Religion, kritisiert der Arzt und Theologe Manfred Lütz.
„Wer gesund stirbt, ist auch tot“

Die Menschen glauben vielfach nicht mehr an Gott, sondern nur noch an die Gesundheit“, sagt der deutsche Psychiater, Theologe und Bestsellerautor Manfred Lütz. Er plädiert für einen gelasseneren Umgang mit dem Thema.

KURIER: Sie sprechen vom „Gesundheitswahn“, der zur Ersatzreligion geworden sei. Manfred Lütz: Das Problem ist: Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr richtig, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann dafür gesund. Der Tod ist der Todfeind der Gesundheitsreligion: Ihn versucht man mit allen Mitteln zu vermeiden – mit Fitness, gesunder Ernährung, et cetera. Das Tragische ist: Um den Tod zu vermeiden, nehmen sich die Menschen das Leben – sie nehmen sich unwiederholbare Lebenszeit in Fitnessstudios, Wellnesseinrichtungen, mit Diäten und so weiter. Nachher liegen sie auf dem Sterbebett und das, was sie mit all ihren Methoden vermeiden wollten, ist trotzdem eingetreten. Denn auch wer gesund stirbt, ist leider definitiv tot. Und dann überlegt sich vielleicht manch einer doch, ob er nicht zum Beispiel mehr Gespräche mit seinen Kindern oder seinem Partner hätte führen oder öfter etwas wirklich genießen sollen, anstatt sich dauernd nur um die Gesundheit zu kümmern.

Aber ein gesunder Lebensstil ist doch nicht schlecht? Ein wenig Sport, Fitness, gesunde Ernährung, Prophylaxe – dagegen bin ich ja nicht. Aber wenn man es übertreibt, investiert man ständig nur in die Rahmenbedingungen des Lebens, nicht in das Leben selbst. Gesundheit ist ein hohes, aber nicht das höchste Gut. Man kreist sonst nur auf seinem Teller herum, der Blick über den Tellerrand fehlt aber.

 

Was ist das höchste Gut? Für Kant war es die Einheit von Heiligkeit und Glückseligkeit oder ganz allgemein Gott, für einen Atheisten ist es vielleicht das Glück, aber sicher nicht Gesundheit. Gesundheit als höchstes Gut ist eine Anleitung zum Unglücklichsein – und bedeutet überdies eine Diskriminierung von chronisch kranken Menschen. Wer von Geburt an krank ist, hätte dann nie das höchste Gut gehabt. Die ständige Beschäftigung mit Gesundheit macht auch traurig und besorgt. Ich traue mir zu, dass ich einen Menschen, der sich bisher für gesund hielt, in einem 20-minütigen Gespräch so weit bekomme, dass er nachher die größten Bedenken hat – obwohl gar kein Grund dafür besteht.

Aber ist das nicht nur eine kleine Gruppe, die so fanatisch-verbissen ist? Nein, das ist die Mentalität generell, es herrscht eine pathetisch gesundheitsreligiöse Atmosphäre vor. Über die Religion können Sie heute jeden Scherz machen, aber bei der Gesundheit hört der Spaß auf – das ist die einzige satirefreie Zone in unserer Gesellschaft. Zünden Sie sich in einer Runde eine Zigarette an und sagen Sie: „Warum soll eigentlich meine Lunge älter werden als ich?“ Die Leute werden entsetzt sein: Sie müssen mit Reaktionen wie im Mittelaler bei Gotteslästerung rechnen. Ich plädiere für mehr Gelassenheit. Man muss aufpassen, dass man sich nicht den ganzen Tag nur noch mit Gesundheitsfragen beschäftigt. Denn das bedeutet, dass man sein Leben verpasst, weil man dauernd versucht, den Tod zu vermeiden. Es macht ja auch Stress, sich 90 Jahre nur mit der Gesundheit zu befassen. Da ist es mir lieber, ich werde nur 80 oder 75, aber ich lebe mein Leben. Wir dürfen auf die Lebenslust nicht vergessen – und da gehört auch einmal ein üppiges Essen und ein guter Wein dazu.

„Wer gesund stirbt, ist auch tot“

Sind die Menschen heute zu leichtgläubig, was Gesundheitsversprechen betrifft? Ganz sicher. Aus Angst vor dem Tod machen viele Menschen alles. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ich schreibe im KURIER am 1. April einen Artikel zu folgendem Thema: US-Studien hätten ergeben, wer täglich eine Stunde um eine Eiche läuft lebt drei Monate länger als wenn man das nicht tut – Sie werden bald keine deutsche Eiche mehr in Wien finden, um die nicht irgendein beunruhigter Österreicher rennt. Dabei könnten diese drei Monate theoretisch auch drei Monate mehr Aufenthalt im Pflegeheim mit Demenz bedeuten. Der Bereich Gesundheit ist deshalb ökonomisch wahnsinnig attraktiv. Wenn Sie Geld verdienen wollen müssen Sie sich nur hinstellen und sagen, Sie haben jetzt die ultimative Möglichkeit gefunden, wie man älter werden kann. Das ist der Goldesel.

Sind religiöse Menschen weniger anfällig für solche „Heilsversprechen“? Das glaube ich schon. Wenn mit dem Tod alles aus ist dann wird es natürlich eng im Leben, dann muss man in diesem Leben alles verwirklichen, was nur irgendwie geht. Doch dabei werden ihnen utopische Ziele suggeriert – nicht nur Gesundheit, sondern auch toller Erfolg, alles Mögliche. Das klappt natürlich alles nicht so, wie es sollte. Dann haben die Menschen den Eindruck, dass sie im Leben zu kurz gekommen sind und dass sie bis zum Tod noch möglichst viel erreichen müssen. Das macht wieder mehr Stress. So gesehen finde ich ist Atheismus ziemlich anstrengend. Psychologisch gesehen lebten die Menschen im Mittelalter erheblich länger als wie wir heutzutage. Die mittelalterlichen Menschen lebten ihr diesseitiges Leben plus das ewige Leben. Das ist jetzt kein Gag, sondern psychologisch war das wirklich so: Für sie war der Tod nur ein Durchgang ins Paradies, in die Hölle, ins Fegefeuer.

Gibt es eine Möglichkeit, ohne viel Aufwand und Stress möglichst alt zu werden? Ja, es gibt eine Methode, die absolut sicher ist und für deren Wirksamkeit es sehr gute Studien gibt: Sie müssen sich einfach nur sehr alte Eltern aussuchen. Wenn beide Eltern über 90 Jahre alt werden, dann können Sie ruhig mehr trinken und rauchen, und werden trotzdem vergleichsweise alt. Wenn hingegen beide Eltern bereits mit 50 an Herzerkrankungen gestorben sind, dann sterben Sie – im statistischen Mittel – auch früher, egal, welche gesundheitsgefälligen Werke Sie tun. Die Hoffnung der Menschen ist aber immer, dass sie durch gute Werke den Tod vermeiden können. Das ist aber eine geradezu kabarettreife Illusion.

Wenn der Gesundheitswahn so verbreitet ist: Wieso steigt dann die Zahl der stark übergewichtigen Menschen an, werden Zivilisationskrankheiten wie Typ-2-Diabetes häufiger? Hier gibt es möglicherweise einen Zusammenhang: Essstörungen werden oft durch die Diäten erzeugt, die ja die Aufmerksamkeit nur noch auf das Essen richten. Wenn alle Welt auf Gesundheit, gesunde Ernährung, auf Idealgewicht fixiert ist, dann klinken sich viele aus und sagen: Ich schaffe das eh nicht, das hat bei mir alles keinen Sinn. Und das kann dann zum anderen Extrem führen, dass die Menschen überhaupt nicht mehr auf die Gesundheit achten.

Zur Person: Arzt mit Satire-Ader

Spitalschef Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut und katholischer Theologe. Er leitet das Alexianer-Krankenhaus in Köln. Lütz ist Autor mehrerer humorvoller und satirischer Bestseller im Bereich Gesundheit und Religion.

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