Unbekannten Leiden auf der Spur

Im Labor des CeMM-Forschungszentrums für Molekulare Medizin der ÖAW: Kinderarzt Boztug und sein Team suchen Gen-Mutationen
Wie ein neues Zentrum den Ursachen unklarer Krankheitsbilder auf die Spur kommen will.

Es ist ungewöhnlich: Bereits als Kleinkind litt der heute elfjährige Bub an einer schweren, chronisch entzündlichen Darmerkrankung. "Typischerweise treten diese Erkrankungen ja erst bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf", sagt der Kinderarzt Kaan Boztug – ausgelöst durch ein Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren, Stress, Virusinfektionen etc.

Doch bei einem derart frühen Krankheitsbeginn scheint der Einfluss der Gene viel größer zu sein: "Meine Arbeitsgruppe hat einen neuen Gendefekt entdeckt, der die Erkrankung vererben kann – als einziger Auslöser."

Unbekannten Leiden auf der Spur
Dr. Kaan Boutug, AKH, Ce-M-M, Labor
Diese Entdeckung hat auch eine praktische Konsequenz: "Wir wissen, dass dieser Gendefekt dazu führt, dass ein bestimmtes Molekül im Körper nicht gebildet wird.Dieses kann man aber mit einem Medikament von außen zuführen – wir hoffen, dass das als Therapie funktionieren könnte."Boztug ist Leiter eines neuen Zentrums für seltene und unbekannte Krankheiten(CeRUD). Es ist eine Kooperation der Uni-Kliniken für Kinderheilkunde und Dermatologie der MedUni Wien / AKH Wien sowie des Forschungszentrums für Molekulare Medizin der Österr. Akademie der Wissenschaften (Ce-M-M).

Odyssee der Eltern

Viele Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen haben eine langjährige Odyssee an Arztbesuchen hinter sich. "Sie erhalten oft viele Diagnosen, die aber keine Erklärung für den Auslöser der Symptome liefern. Deswegen sind diese Diagnosen nicht falsch oder fehlerhaft. Aber wenn die Ursache einer Erkrankung nicht bekannt ist, kann auch die Diagnose nicht präzise sein."

Boztug nennt ein Beispiel: "Wir haben vor einigen Jahren die genetische Grundlage einer Erkrankung des Immunsystems nachgewiesen. Den Kindern fehlt ein Typ weißer Blutkörperchen und sie haben gleichzeitig einen Herzfehler. Lange hat man aber nicht gewusst, dass beides durch einen einzigen Gendefekt verursacht wird und zusammenhängt."

Das neue Zentrum soll auf zweifache Weise Anlaufstelle sein: Fachärzte werden Patienten zuweisen können. Boztug: "Wir können dann Diagnosen durchführen, Vorschläge für die Therapie machen und diese koordinieren – die kontinuierliche Weiterbetreuung erfolgt aber lokal."

Unbekannten Leiden auf der Spur
Dr. Kaan Boutug, AKH, Ce-M-M, Labor
Der andere Bereich sind die "unbekannten Krankheiten". Hier werden sich Ärzte aus verschiedenen Fachdisziplinen gemeinsam mit rein wissenschaftlich tätigen Experten zunächst die bisherigen Befunde zugewiesener Patienten ansehen: "Hat auch nach der Diskussion der Krankengeschichte unter sämtlichen Spezialisten niemand eine Ahnung, worum es sich handeln könnte, entscheiden wir, ob der Patient in eine genetische Studie aufgenommen wird." Darin wird dann versucht, mögliche genetische Auslöser der Erkrankung aufzuspüren.

Genen auf der Spur

"Es ist kein Zufall, dass dieses Zentrum jetzt, im Jahr 2014, eröffnet wird", sagt Boztug. "Denn es gibt erst seit kurzer Zeit die Möglichkeit, die Erbsubstanz einzelner Patienten relativ schnell und kosteneffizient zu entziffern und so Veränderungen zu entdecken."

80 Prozent aller seltenen Erkrankungen werden durch solche Mutationen ausgelöst – darunter auch die meisten Muskelkrankheiten. Oft beginnen all diese Krankheiten schon im Kindesalter. Boztug: "Wenn wir krankmachende Gen-Varianten ausfindig machen können, ist das ein entscheidender Schritt für die Entwicklung neuer Therapien."

20.000 Menschen in Österreich sind von – bis heute unheilbaren – Muskelerkrankungen betroffen. Die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. In vielen Fällen können sie die Lebenserwartung stark verkürzen, da auch Herz und Zwerchfell (Atmung) Muskeln sind, die bei bestimmten dieser Erkrankungen immer schwächer werden. Erfolge mit neuen, in Studien erprobten Gentherapien sind bis jetzt zwar ausgeblieben, sagte Prim. Doz. Günter Bernert, Präsident der Österreichischen Muskelforschung und Vorstand des Preyer’schen Kinderspitals in Wien, anlässlich einer Tagung am Wochenende: "Aber auch ohne spektakuläre Durchbrüche konnte etwa bei der Duchenne Muskeldystrophie (DMD) die Lebenserwartung im Vergleich zu den 70er-Jahren verdoppelt werden: "Vor allem aber hat sich auch – durch die richtige Therapie im richtigen Alter – die Lebensqualität deutlich erhöht." www.muskelforschung.at

Definition: Eine Krankheit gilt dann als selten, wenn sie nicht mehr als einen von 2000 Menschen betrifft.

6000 bis 8000 seltene oder undiagnostizierte Krankheiten gibt es Schätzungen zufolge.

5-8 Prozent der Bevölkerung leiden an einer dieser seltenen Erkrankungen.

27 bis 36 Millionen Menschen in Europa sind betroffen, darunter mehr als 400.000 Österreicher.

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