Tibetische Medizin: Spurensuche am Himalaya
In der Realität ist vieles ganz anders als in der Beschreibung oder im Internet." Das ist eines der wesentlichen Erkenntnisse von Isabella Gazar zur Tibetischen Medizin. Als Pharmazeutin vor allem an der Zusammensetzung dieser hierzulande noch seltener genutzten Pflanzenarzneien interessiert, tauchte die Wienerin tief in diese ganzheitliche Heilslehre ein.
Die Nachfrage nach "sanften", pflanzlichen Behandlungen steigt. Das erlebt auch Gazar täglich an ihrem Arbeitsplatz in der Wiener Agnes-Apotheke. "Neben Phytotherapie, Homöopathie und TCM wird auch Tibetische Medizin immer öfter gewünscht." Also begab sie sich auf Spurensuche, die sie bis ins nordindische Dharamsala führte - dem heutigen Zentrum der Exiltibeter. "Aus Büchern kann ich nicht herauslesen, warum die Tibeter eine andere Einstellung zu Gesundheit und Medizin haben. Ich musste einfach selbst dort hin." Ihre Erlebnisse hielt sie in einem Online-Blog fest (www.tibetischespuren.at).
Mit Hilfe eines deutschsprachigen, gebürtigen Tibeters gelang das Unterfangen. "Durch ihn habe ich sehr viele Leute kennengelernt, das gelingt als Ausländer sonst nicht so einfach." Gazars erste Erkenntnis vor Ort: Das westliche Bild vom lächelnden, freundlichen Asiaten stimmt so nicht. "Die Tibeter sind eher verschlossen. Ich bin oft nur dabei gesessen, hab vor mich hin gelächelt, weil niemand mit mir gesprochen hat und ich auch nichts verstand." Bei Besuchen von Arzneiherstellern fühlte sie sich aber auch ohne Worte heimisch. "Gerade beim Verarbeiten und Mischen der Pflanzen gibt es Parallelen. Viele Arbeitsschritte kenne ich noch aus meinem Studium." Die händische Produktion in Kleinstmanufakturen stehe freilich in scharfem Kontrast zur Herstellung beim einzigen europäischen Lizenzhersteller, der Schweizer Firma Padma. "Dort ist alles sehr steril, die Hightech-Maschine zur Kapsel-Herstellung arbeitet vollautomatisch und in Dharamsala werden die Pillen hauptsächlich von Hand gerollt."
Überlieferung
Unterschiede fand Gazar aber auch in der Therapie. "Die Tibeter wenden vieles aus Überlieferung an und wissen oft gar nicht genau, was sie da tun." Ein gutes Beispiel dafür sei die Brechnuss. In der Tibetischen Medizin wird sie als Blutdruckmittel genutzt. Bei uns nicht, da sie das Gift Strychnin enthält. Die Verarbeitung war für die Pharmazeutin gewöhnungsbedürftig: "Die Samen wurden mehrmals in Milch gekocht. Damit sei die giftige Wirkung eliminiert, hieß es."
Klingt zu einfach, um wahr zu sein. Die Erklärung liefert die europäische Fachliteratur: Die toxische Wirkung der Brechnuss kann nämlich durch basische Flüssigkeiten - dazu zählt Milch - neutralisiert werden. Übrigens, auch die Tibeter verfügen über zum Teil sehr alte Arzneibücher, in denen etwa der Wirkungsgehalt der Pflanzen festgehalten wird.
Am Fuße des Himalaya haben aber auch die Ärzte eine andere Einstellung, scheint es. Isabella Gazar traf unter anderem den ehemaligen Leibarzt des Dalai-Lama. "Er setzt auf genaue Beobachtung und die Pulsdiagnose. Worte werden nicht viele gemacht. Bei mir hat er aufgrund meiner Gesichtsfarbe eine Magenschwäche diagnostiziert. Das könnte vom traditionellen, sehr fetten Buttertee hergerührt haben."
Tradition: Kräuter sollen ausgleichend wirken
Im Gegensatz zur Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) und der indischen Gesundheitslehre Ayurveda ist die sanfte, ganzheitliche und vorwiegend auf Pflanzenarzneien aufgebaute Himalaya-Medizin im Westen noch unbekannt. Die drei Systeme beeinflussten einander jedoch gegenseitig. Die Philosophie der Tibetischen Medizin beruht etwa auf dem Buddhismus, der aus Indien stammt. Die medizinischen Grundlagen finden sich auch im Ayurveda wieder, während die Pulsdiagnose wiederum der TCM zuzuordnen ist.
Die tibetische Lehre beruht auf mehreren Säulen. Gesundheit wird als ein Zustand der Ausgewogenheit der Körperenergien definiert. Therapien sollen dieses Gleichgewicht zwischen Körper und Geist wiederherstellen. Als erstes Therapeutikum gilt deshalb die Ernährung, als zweites Verhalten und innere Haltung. Erst dann kommen die Heilmittel aus Pflanzenbestandteilen zum Einsatz. Insgesamt gibt es in der Tibetischen Medizin 84.000 Störungen, die in 404 Krankheiten unterteilt werden.
In Österreich gibt es wenige zugelassene Arzneiprodukte. "Für ein registriertes Arzneimittel muss eine Wirkung nachgewiesen werden", erklärt Apothekerin Isabella Gazar. Erst kürzlich gelang dies bei einer Arznei aus 19 verschiedenen Kräutern, die gegen Durchblutungsstörungen eingesetzt werden.
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