Hilfe, was dürfen wir noch essen?

Laktose- und glutenfrei sind viele Lebensmittel - die Industrie reagiert damit auf die Hysterie und Leichtgläubigkeit der Verbraucher.
Verschleimt Milch? Verschlackt der Darm? Der Lebensmitteltechnologe Klaus Dürrschmid klärt auf.

Ist unser Essen wertloser und giftiger geworden, ist Weizen schädlich? Nein, meint Klaus Dürrschmid, Lebensmittelwissenschaftler an der Universität für Bodenkultur in Wien. Er sagt, wo wirkliche Gefahren lauern.

KURIER: Wie giftig sind Zusatzstoffe in unserem Essen? Sind sie schuld an der Zunahme an Allergien?

Klaus Dürrschmid: Bei einigen wenigen Zusatzstoffen, etwa Farbstoffen, gibt es Indizien, dass sie in hohen Dosen gesundheitsschädlich sein könnten. Aber so etwas wird mitunter sehr aufgeblasen und als gesicherte Erkenntnis verkauft. Es gibt in Europa rund 300 zentral zugelassene Zusatzstoffe, ein Drittel sind Substanzen, die auch in natürlichen Lebensmitteln vorkommen. So enthält jeder Apfel Stoffe, die als E-Nummern ausgeschildert werden müssten, würden sie einem industriell erzeugten Produkt zugesetzt.

Hilfe, was dürfen wir noch essen?
Klaus Dürrschmid

Muss man sich vor Schnittsalat im Packerl oder vor Sprossen wegen möglicher Keimbelastung denn nicht viel mehr fürchten als vor Chemie im Essen?

Die Gefahr durch Mikroorganismen wie Salmonellen oder E.coli-Bakterien ist weitaus größer als die durch Zusatzstoffe. Mikrobiologen haben schon vor dem Sprossen-Skandal in Deutschland gewusst, dass diese extrem verkeimt sein können. Bio-Gemüse kann man im Test übrigens häufig aufgrund höherer Verkeimung – durch Biodünger – erkennen.

Ist es dann nicht absurd, dass über Gen-Mais mehr geredet wird als über Listerien, an denen vor ein paar Jahren tatsächlich Österreicher gestorben sind?

Stimmt. Würde man Bioprodukte als "kohlenstoffbasierte Agrartechnologie mit erhöhtem Gefährdungspotenzial durch Mikroorganismen" bezeichnen, würden sich auch alle fürchten.

Französischer Rohmilchkäse kann ja wirklich töten!

Kann vorkommen, aber auch Quargel kann tödlich sein. Konsumenten wollen, dass Lebensmittel nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Über das Essen wollen wir Beziehung und Liebe aufnehmen – nicht "kalte Technik".

Steigt die Zahl eingebildeter Kranker?

Bei uns wird das Essen extrem problematisiert, vielleicht nehmen deshalb die Ernährungsneurosen zu. So essen zum Beispiel sehr viele Leute glutenfrei, obwohl sie weit davon entfernt sind, an Zöliakie zu leiden. Für Industrie und Handel ist das gut, weil diese Produkte deutlich teurer sind. Die Bauern profitieren davon am wenigsten.

Ist Essen die Religion einer areligiösen Gesellschaft?

Bei manchen kann das tatsächlich religiöse Züge annehmen: Man verwendet alle Energie nur mehr darauf, möglichst gesund zu bleiben. Die krankhafte Übersteigerung dieses Verhaltens bezeichnet man als Orthorexie. Aber ist das Leben lebenswert, wenn man auf alles Lustbringende verzichtet?

Gibt es Schlacken im Darm, von denen man sich befreien muss?

Unsinn! Genauso wie die Theorie, dass Milch verschleimend wirkt, oder die Basentheorie. Unser Körper hat gute Mechanismen, um einen ganz bestimmten pH-Wert im Körper zu erzeugen.

Manche glauben, es gebe Rinderviren in der Milch.Milch ist doch pasteurisiert! Es gibt es allerdings die Hypothese, dass ein hoher Verzehr von rohem Rindfleisch die Krebsrate erhöht.

Was ist mit Light-Produkten?

Bringt wenig. Die Gesamtkalorienzahl ist oft tatsächlich geringer, aber der Fettenergiegehalt relativ gesehen trotzdem sehr hoch.

Sind Bio-Lebensmittel prinzipiell gesünder?

Eine Studie der Stanford-Uni zeigt, dass es bei den gesundheitsfördernden Inhaltsstoffen keine Unterschiede zu konventionellen Lebensmitteln gibt. Beim Fleisch gibt’s etwas größere Unterschiede, denke ich. Für das Aroma ist aber die Lagerung wichtiger. Und da geht es auch um ethische Aspekte. Leider kaufen viele Konsumenten möglichst billiges Fleisch.

Wie sinnvoll sind Nahrungsergänzungsmittel?

Unnötig. Wir sind gut mit Lebensmittel versorgt, die uns alles liefern, was wir brauchen – mit Ausnahme vielleicht von Vitamin D und Folsäure. Da gibt es bei manchen Frauen Versorgungsmängel. Blattgemüse enthalten Folsäure. Essen Sie also einfach vielfältig – und: kein Alkohol! Ethanol ist ein massives Zellgift. Aber ein Gesundheitsminister, der Bier und Wein abschaffen würde, wäre wohl nicht sehr beliebt.

Ein Viertel Rotwein gilt doch als gesund?

Das wird diskutiert. Möglicherweise ist es nicht das Glas Wein selbst, sondern die angenehmen, gesundheitsförderlichen Umstände, unter denen es getrunken wird.

Kann man sich Zöliakie durch eine Überdosis Gluten, also Weizenkleber, anzüchten?

Nein. Allerdings wird in der Wissenschaft immer häufiger Glutensensibilität diskutiert. Aber die ist noch wenig erforscht, vielleicht hat das psychische Ursachen.

Was verhindert Allergien? Weniger Hygiene?

Wer als Kind zum Beispiel Darmparasiten hatte – also Würmer – ist erstaunlicherweise ziemlich gefeit gegen Allergien.

Es heißt immer, die Industrie füge dem Essen Glutamat bei, damit man gar nicht genug davon kriegen kann.

Vor Glutamat muss man sich nicht fürchten. Keine Aminosäure ist in unserem Körper in so großer Menge enthalten. Sie ist auch für den Hirnstoffwechsel wichtig und befindet sich sogar in der Muttermilch. Glutaminsäuren entstehen auch bei der Reifung von Fleisch und Käse. Parmesan enthält mehr Glutamat, als die EU in Fertiggerichten zulässt.

Was ist unser wahres Problem?

Die Menge an Lebensmitteln und die Zusammensetzung unserer Ernährung. Vor allem Männer essen zu proteinlastig, nehmen zu viel Fett, aber auch zu viel Alkohol und zu wenig Kohlenhydrate zu sich. Darüber hinaus bewegen wir uns zu wenig.

Sie halten also nichts von Low-Carb-Diäten?

Nein. 60 Prozent der aufgenommen Kalorien sollten aus möglichst komplexen Kohlenhydraten bestehen – also Stärkeprodukte und nicht Zucker.

Ist Maiszucker schädlich?

Der darin enthaltene Fruchtzucker kann den Fettstoffwechsel zum Entgleisen bringen. Softdrinks, die solche Sirupe enthalten, sind ein klarer Beitrag zur Entstehung von Übergewicht. Je mehr man davon trinkt, desto fetter wird man. Eine Theorie besagt, dass Kalorien, die über Flüssigkeit aufgenommen werden, vom Körper nicht gezählt werden. Die machen nicht satt. Man sollte einfach Wasser trinken.

Macht Weizen dumm und fett, wie ein Experte meint?

Das ist eine Außenseitermeinung, nicht ernst zu nehmen. Aber man sollte natürlich mehr als nur eine Getreidesorte essen.

Hilfe, was dürfen wir noch essen?
buchcover iss oder stirb martina salomon
„Allesfresser klingt einfach zu banal. Ich zähle nicht zur rasch wachsenden Kundengruppe für „Free from“-Produkte.“ Wenn Martina Salomon, stv. Chefredakteurin des KURIER, mit diesem launigen Satz gesteht, dass sie „Omnivore“ sei, wird klar: Ihre neue Streitschrift „Iss oder stirb (nicht)“ (Leykam, 7,50 €) macht Appetit. Auf weniger Essneurosen, aber mehr Freude am Genuss jenseits der Geschäftemacherei mit den Ängsten der Menschen. Achtung: Die Lektüre hat Wirkung und Nebenwirkung – denn fast jeder wird sich im Kapitel „Kleine Typologie des urbanen Essneurotikers“ wiederfinden und aufatmen, wenn er bei „Essen mit Hausverstand“ landet. Mahlzeit!

Am 2. 12, 18 h, diskutieren Martina Salomon, Martina Hohenlohe, Klaus Dürrschmid und Gabriele Kuhn zum Thema „Was darf ich noch essen?“
Ort: Raiffeisen Forum, 1020, Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen- Platz 1. Eintritt frei.

Ab Mitte Dezember müssen diese Inhaltsstoffe bei sogenannten offenen Lebensmitteln angegeben werden – das betrifft etwa Gastronomiebetriebe, Würstelstände, Feinkostläden oder auch Eisdielen. Bei verpackten Lebensmitteln sind diese Stoffe in der Inhaltsangabe angeführt.

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