Im Zeitalter des Tippens: Stirbt die Handschrift bald aus?

Mädchen sitzt am Tisch und schreibt mit der Hand.
Die Verbreitung digitaler Schreibwerkzeuge bringt das Schreiben per Hand in Bedrängnis. Wie wichtig ist der Erhalt der jahrtausendealten Kulturtechnik?

"Schreiben ist Bewegung", sagt Elisabeth Charkow. Als Graphologin hegt die Wienerin eine besondere Leidenschaft für das handgeschriebene Wort. Wenn Charkow darüber spricht, erscheinen Bilder von per filigraner Füllfeder zu Papier gebrachter Schnörkelschrift vor dem inneren Auge. Die schwungvollen Bewegungen, die sich beim Verewigen eines Worts vollziehen, wirken im Vergleich zum staccatoartigen Tippen am Display des Smartphones in der Tat äußerst dynamisch. Man fragt sich unweigerlich: Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas mit der Hand geschrieben?

Digitale Schreibwerkzeuge – Computer, Tablets, Smartphones und -watches – haben manuelles Schreiben im Alltag vielfach verdrängt. Immer öfter wird inzwischen sogar über den Sinn der Handschrift debattiert. Insbesondere im schulischen Kontext.

In den USA wird beispielsweise in einigen Bundesstaaten inzwischen ein stärkerer Fokus auf das Erlernen von Tastaturschreiben anstelle der Hand- bzw. Schreibschrift gelegt. Bei Letzterer werden die Buchstaben eines Wortes miteinander verbunden, quasi in einem Zug geschrieben. Einige Bundesstaaten haben aber zuletzt auf den Trend reagiert und die Pflicht zum Erwerb der Schreibschrift wieder eingeführt.

Trend zur De-Digitalisierung

In Finnland wurde schon vor knapp zehn Jahren die Schreibschrift abgeschafft. Schülerinnen und Schülern wird nur mehr eine schnörkellose Schrift vermittelt. In Dänemark setzte man früh auf die Digitalisierung. Tablets und Laptops wurden zu zentralen Werkzeugen für das Lernen. Die Wissenschaft fördert nun immer mehr Erkenntnisse über die schädlichen Auswirkungen überbordender Bildschirmzeit zutage. Dänemark rudert zurück: Der Bildschirm soll künftig nur dann eingesetzt werden, wenn er didaktisch und pädagogisch sinnvoll ist, analogen Lernformen wieder mehr Raum gegeben werden.

Auch Charkow plädiert dafür, dem Schreiben im Klassenzimmer gezielt Platz zu geben. Das sei auch mit Blick auf einer präsentere Künstliche Intelligenz (KI) sinnvoll: "Ihr Aufkommen könnte ein interessanter Umweg zurück zur Handschrift sein, denn sie ist Zeugnis einer Eigenleistung."

Digitale Technologien in Schulen maßvoll einzusetzen, hält auch Verena Stumptner für wichtig: "Bestenfalls gestaltet man den Unterricht abwechslungsreich, das macht das Lernen effektiver", sagt die Ergotherapeutin, die in ihrer Wiener Praxis SpielStudio ZENTRUM schwerpunktmäßig mit Kindern mit Wahrnehmungsstörungen arbeitet und unter anderem Schreibschwierigkeiten mit dem Ansatz der Sensorischen Integration behandelt. Idealerweise wird auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht genommen. So könnten digitale Medien etwa bei der Förderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung unterstützend wirken, indem sie strukturierte Lernangebote und visuelle Hilfen zur Interaktion ermöglichen. 

In der Volksschule hätten mobile Geräte auch zu Lernzwecken nichts zu suchen. "Studien zeigen deutlich, dass ein zu früher Kontakt die Hirnentwicklung massiv beeinträchtigen kann."

Basis-Fertigkeiten

Wie es um die handschriftliche Schreibkompetenz der heimischen Bevölkerung bestellt ist, dazu gibt es kaum isolierte Studien. Allerdings scheint die verwandte Lesekompetenz Erwachsener merklich zu schwinden, wie unter anderem Erhebungen der Statistik Austria zeigen. 

In Österreich werden Schülerinnen und Schüler ab der 5. Schulstufe mit einem Notebook oder Tablet ausgestattet. Verkümmern dadurch ihre Schreibfähigkeiten? "Ich beobachte schon zunehmend Defizite im Bereich der Fein- und Graphomotorik", sagt Stumptner. Häufig seien Schwierigkeiten beim Halten und Führen von Schreib- und Zeichenwerkzeugen Teil komplexerer Problematiken. "Schreibschwierigkeiten resultieren oft aus tieferen Entwicklungsdefiziten."

Um gut malen und schreiben zu können, müssen bei Kindern grundlegende Funktionen wie Haltungsstabilität, Aufmerksamkeit, Auge-Hand-Koordination, visuell-räumliche und koordinative Fähigkeiten sowie die Handlungsplanung ausgebildet sein. "Basis dafür ist eine Bewegungsvielfalt im Alltag. Kinder sollten schaukeln, klettern, schwimmen oder mit dem Rad fahren, um verschiedene Sinneseindrücke zu sammeln, die für höhere kognitive Leistungen genutzt werden." Mehr Bildschirmzeit bedeute weniger Zeit für motorische Aktivitäten: "Das kann zu Schreibschwierigkeiten beitragen."

Das Hirn schreibt mit

Seit 5.500 Jahren verfügt die Menschheit über die Fähigkeit, zu schreiben. Diskussionen darüber, ob das Erlernen der Handschrift in der Ära neuer Technologien obsolet wird, findet Charkow bizarr. "Mit dem Verlust der Schrift würden wir uns vollkommen von technischen Geräten abhängig machen, das kann keine Vision sein." 

Schreiben sei außerdem "herrlich anregend für das Gehirn". Studien zufolge ist bei handschriftlichen Tätigkeiten ein Drittel des Denkorgans aktiv. "Beim Schreiben trainieren wir bei Weitem nicht nur die Beweglichkeit der Finger und unsere Motorik, sondern auch Konzentration, Merkfähigkeit, Vorstellungskraft, Kreativität, Ausdauer und Gedächtnisleistung", bestätigt Stumptner. Kinder wie Erwachsene würden sich Inhalte beim manuellen Verschriftlichen besser einprägen. 

Dass die Handschrift ohnehin nicht aus der Mode kommt, zeigt sich im Boom der Kalligrafie. Schon seit einiger Zeit sind Schönschreib-Kurse en vogue. Sie spiegeln – ähnliche wie die neue Lust am Töpfern oder Stricken – eine Sehnsucht nach manueller Tätigkeit.

Zugang zum Stift

Noch einmal zurück zum bewegten Schreiben, das gut gelernt sein will, wie Charkow betont. Schreibmaterialien sollten früh im Kinderzimmer präsent sein. "Dann greifen Kinder ganz von selbst dazu und betätigen sich aus ihrer Ausdrucksfreude heraus schriftlich." 

Wobei der Begriff "Schrift" zunächst irreführend ist. "Schreiben beginnt mit unbestimmten Kritzeleien, die in gezieltere Formen übergehen." Geht es im Vorschulalter ans Schreiben einzelner Buchstaben, muss die Schreibfertigkeit spezialisiert werden. Eine echte feinmotorische Leistung, die "gekoppelt an Freiwilligkeit und Bestärkung von außen viel Freude bereiten kann", sagt Charkow. Auch Stumptner plädiert für einen lustvollen Zugang zum Stift: "Wenn ein Kind gerne Autos mag, kann man zum Beispiel gemeinsam eine Rennstrecke malen. Das macht Spaß und hilft dem Kind, eine Routine mit Stift zu entwickeln."

Irgendwann werden die Bewegungsabfolgen verinnerlicht, das Schreiben automatisiert sich: "Es schreibt sich einfach", sagt Charkow, die damit rechnet, dass das handgeschriebene Wort auch in Zukunft Bestand haben wird. "Dafür braucht es nur Ideen für ein gutes Nebeneinander – und viel Papier und Schreibstifte im Kinderzimmer!"

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