Bildungsdefizite und Zeitmangel
In den meisten Fällen hängt das Fehlen von Vorleseimpulsen mit den eingeschränkten Bildungsvoraussetzungen der Eltern zusammen: Rund die Hälfte aller Mütter und Väter mit geringer formaler Bildung liest selten oder nie vor – im Vergleich zu etwa 40 Prozent im Durchschnitt. "Wenn Eltern geringere Bildungschancen hatten, kann es sein, dass sie sich mit der Vorlesesituation überfordert fühlen", erklärt Höfer.
Auch Zeitmangel ist ein zugrundeliegendes Problem. Immer öfter werden digitale Medien dem analogen Leseerlebnis vorgezogen. Nutzungszeit, die dann zum Lesen fehlt. "Vorzulesen ist anstrengend und braucht Zeit", beschreibt Höfer. "Aber diese Zeit ist wertvolle Beziehungszeit, die in die Bindung zum Kind investiert wird." Vorlesen ist mehr als nur eine Tätigkeit. "Es ist eine Geste der Zuwendung und Aufmerksamkeit. So kann ein Bezug zwischen dem Kind und der vorlesenden Person entstehen, ebenso wie ein Gefühl der Geborgenheit."
Mit dem Nebeneffekt, dass das Interesse am Selbstlesen geweckt wird. "Wenn man entdeckt, wie Texte Bilder im Kopf erzeugen und wie sie innerlich weiterwirken, kann das zu einem echten Genuss führen."
Im Umgang mit Büchern – sei es durch Vorlesen, eigenständiges Schmökern oder einfaches Blättern – entwickeln Kinder ein Bewusstsein für Schrift und Text. "Durch Vorlesen kann das Interesse an Buchstaben, Sprache und dem, was sich dahinter verbirgt, geweckt werden", präzisiert Höfer. Mit positiven Effekten auf Spracherwerb und -kompetenz, Grammatikverständnis, Wortschatz und Kreativität.
Bücher fördern die Empathie
Taucht man gemeinsam mit dem Kind in Geschichten ein, lernt es, sich in Figuren und Situationen hineinzuversetzen. Vorlesen fördert somit nicht nur das Wissen über die Welt, sondern auch das Mitgefühl. Studien zeigen, dass Kinder, denen viel vorgelesen wird, empathischer sind als solche ohne Vorleseerfahrung.
Bücher bieten zudem eine wertvolle Möglichkeit, mit Kindern ins Gespräch zu kommen – sei es über alltägliche Erfahrungen, Ängste, bevorstehende Ereignisse oder vieles mehr.
Ein Mangel an Lesestoff im Haushalt kann ebenfalls das Vorlesen erschweren. Durch Buchgeschenke und Ausleihmöglichkeiten steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kindern in ihren Familien vorgelesen wird. Aus Untersuchungen weiß man: Vorlesen wird "vererbt". Kinder, die heute Vorlesen erleben, geben diese Erfahrungen morgen selbst aktiv weiter.
Moderne Literatur für den Nachwuchs
Immer mehr Bücher behandeln inzwischen das Thema Emotionserleben. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist dies besonders begrüßenswert, sagt Höfer: "Gefühle begleiten uns unser Leben lang." Es sei wichtig, Kinder schon früh darin zu unterstützen, Emotionen zu benennen und einen konstruktiven Umgang mit ihnen zu entwickeln. "Zum Beispiel durch eine Figur aus einer Geschichte, die als Vorbild im Umgang mit Gefühlen dient."
Kinderbücher widmen sich zunehmend auch Umbruchsphasen im Leben eines Kindes – einem Umzug, einer Scheidung der Eltern, der Geburt eines Geschwisterkindes. "Bücher können komplexe und emotional anspruchsvolle Themen verständlich und bewältigbar machen", erklärt Höfer. "Geschichten bieten Halt und Orientierung und helfen, die Realität einzuordnen."
Wie findet man das richtige Kinderbuch?
Die Auswahl an Kinderbüchern ist schier unendlich: Fachleute empfehlen, sowohl auf Altersangaben als auch auf den individuellen Entwicklungsstand und die Interessen des Kindes zu achten. Auch das Material und das Format spielen eine Rolle: So können Filz- und Stoffbücher mit Knisterelementen Babys an das Medium heranführen. „Es ist besonders schön, wenn das Kind mitbestimmen darf, welches Buch gekauft oder in der Bücherei ausgeliehen wird“, ergänzt Höfer.
Werden Bücher schon in der Kindheit mit positiven Erfahrungen verknüpft, kann das den Nährboden für eine lebenslange Leselust bereiten. "Alles, was man sich in der Kindheit aneignet, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter präsent sein."
Lesekompetenz befähigt laut Höfer dazu, später im Leben eigene Entscheidungen zu treffen, kritisch zu denken und sich differenziert auszudrücken. "Insofern war und ist Lesen von großer gesellschaftlicher Relevanz."
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