700.000 Österreicher nehmen mehr als fünf Medikamente

Das Simmeringer Start-up Nabriva hat sich darauf spezialisiert, Antibiotika gegen krankenhausresistente Keime zu entwickeln.
Kampagne soll Bewusstsein schaffen. Brief an Ärzte, wie viele Patienten mehr als zehn Präparate erhalten.

Rund 700.000 Österreicher nehmen mehr als fünf (von den Krankenkassen erstattete) Medikamente - privat gekaufte Präparate noch gar nicht mitgerechnet. Rund 500.000 sind älter als 60 Jahre, Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer. Das geht aus Daten hervor, die jetzt vom Hauptverband der Sozialversicherungen sowie der Salzburger und Wiener Gebietskrankenkasse präsentiert wurden. Anlass ist der Start einer großen Informationskampagne der Sozialversicherung zum Thema "Polypharmazie" (Fachbegriff für die gleichzeitige Einnahme von mehr als fünf verschiedenen Medikamenten) für Patienten und Ärzte. Ein völlig neues Instrument ist dabei die "Polyquote": Einmal jährlich sollen alle Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner ein Informationsschreiben erhalten, wie hoch der Prozentsatz ihrer Patienten ist, die in einem Quartal zehn oder mehr Medikamente verschrieben bekamen.

Kein erhobener Zeigefinger

In Wien sind das rund fünf Prozent der Versicherten der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) - etwa 21.000 Personen. Frauen sind mit einem Anteil von fast zwei Dritteln weitaus häufiger von Polypharmazie betroffen als Männer.

Bei der Information der Ärzte über ihre "Polyquote" gehe es nich um einen erhobenen Zeigefinger, sondern um Sensibilisierung, betont Edith Brandner von der WGKK. Denn tatsächlich stehen die Allgemeinmediziner oft alleine: Patienten kommen nach Spitalsaufenthalten mit mehreren zusätzlichen neuen Präparaten zu ihnen, die sie weiterverschreiben sollen - sie sollten dann diese Liste kritisch hinterfragen, wozu aber häufig die Zeit fehlt.

"Es geht nicht um Kritik, nach dem Motto: ,Der Arzt hat eine hohe Polyquote', sondern um das Bewusstmachen einer Problematik", sagt auch Univ.-Prof. Klaus Klaushofer, ärztlicher Leiter des Hanuschkrankenhauses in Wien. Viel zu verschreiben sei auch nicht immer automatisch schlecht. Aber es sei sinnvoll, bei langen Medikamentenlisten genau zu prüfen, ob es wirklich für jedes Präparat eine Indikation (also einen zwingenden medizinischen Grund) gebe. Und es sei notwendig, sich auf die Hauptprobleme des Patienten zu konzentrieren.

Einnahmetreue sinkt

Die Einnahme von zu vielen Medikamenten verschlechtert die richtige Einnahme, betont der Pharmakologe Priv.-Doz. Robert Sauermann vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger: "Die Einnahmetreue nimmt mit der Anzahl der Medikamente stark ab, bei mehr als sechs Medikamenten nehmen nur mehr 20 Prozent alle Medikamente richtig ein." Und sie führt zu Wechselwirkungen: Eine Untersuchung bei niedergelassenen Ärzten hat gezeigt, dass bei 35 Prozent der älteren Bevölkerung solche unerwünschten Nebenwirkungen (z.B. Schwindel, Kreislaufschwächen) bestehen.

"Hochbetagte Menschen leiden meistens an mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig", so Univ.-Prof. Regina Roller-Wirnsberger von der MedUni Graz. Wird jede dieser Krankheiten exakt nach den Leitlinien therapiert, "ist man schnell bei zehn bis 20 Medikamenten". Das erhöhe aber auch die Gefahr für "funktionelle "Defizite" - dass also die Menge an Wirkstoffen die Betroffenen so beeinflusst, dass dies Einfluss auf ihre geistigen Kapazitäten und ihre Fähigkeit, selbstständig zu leben, haben kann. Hier könne es zu schwerwiegenden Interaktionen kommen: "So liegen etwa die Blase und das Gehirn auf einer Interaktionsachse. Es kann passieren, dass Sie die Inkontinenz optimal behandeln, es aber gleichzeitig zu kognitiven Beeinträchtigungen kommt." Zu ähnlichen Problemen kann die gleichzeitige Verabreichung von Antidepressiva und Schmerzmittel führen. "Bei der Verschreibung von Medikamenten an ältere Personen ist sehr große Erfahrung notwendig, das ist nichts für Leitlinien alleine." Denn ein weiteres Problem sei, dass viele Medikamente nie an älteren Menschen im Rahmen von Studien getestet wurden.

Medikamenten-Checkliste

Es geht aber nicht nur um die Gesamtzahl an Medikamenten - sondern auch um deren Zusammenstellung. "Wenn Patienten schon eine lange Medikamentenliste haben erhalten sie oft nicht mehr diejenigen Präparate, die ihre Lebensqualität verbessern würden", so Wirnsberger.

"Viele Patienten wissen auch oft gar nicht, aus welchem Grund sie das eine oder andere Präparat erhalten", sagt Andreas Huss, Obmann der Salzburger Gebietskrankenkasse. Eine "Medikamenten-Checkliste", in der sie alle Präparate eintragen können, soll dabei helfen, die Übersicht zu bewahren. Dieses Heftchen in Passformat wird bei den Allgemeinmedizinern erhältlich sein. Gleichzeitig gibt es auch Informationsmaterial für Ärzte und Patienten.

Ein Patient, 27 Wirkstoffe

"Ich habe auf meiner Abteilung gerade einen Patienten, der vor seiner Spitalsaufnahme 27 verschiedene Wirkstoffe eingenommen hat", sagt Mediziner Klaushofer vom Hanuschkrankenhaus. "Gleichzeitig hat er Grapefruit-Saft getrunken, der die Wirkung bestimmter Präparate noch zusätzlich erhöht." In einem Pilotprojekt gehen Spitalsapotheker und behandelnde Ärzte gemeinsam die Medikamentenlisten durch und besprechen die Notwendigkeit jedes einzelnen Präparates, mögliche Vorteile und mögliche Risiken.

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