Begegnung der unheimlichen Art

Forscher versuchen zu ergründen, was das vermehrte Auftreten der Nesseltiere begünstigt.

Quallen statt Kabeljau, grausiger Glibber statt majestätischer Meerestiere. Der britische Meeresbiologe Callum Roberts zeichnet in seinem Buch „Der Mensch und das Meer“ ein unheimliches Bild des Ozeans der Zukunft: „Die Qualle könnte unsere Meere erben.“ Dabei haben die Wesen aus 99 Prozent Wasser nicht einmal ein Gehirn – und lassen sich als Teil des Planktons treiben. Dafür tragen sie mitunter hochgiftige Chemiewaffen bei sich. Überlebenskünstler sind sie allemal – sie trotzen widrigen Umständen wie Sauerstoffarmut, Schadstoffanreicherung oder Übersäuerung des Wassers.

Ob Quallen – sie bevölkern seit 600 Millionen Jahren die Weltmeere – eines Tages das Kommando übernehmen werden, wissen die Forscher nicht. Dass die Nesselwesen Urlaubern die Ferien vermiesen, ist hingegen Faktum. Qualleninvasionen sind in den Mittelmeerregionen ein Aufregerthema – 150.000 Touristen werden dort jährlich wegen Quallenstichen behandelt. Spanische Wissenschaftler schlugen heuer bereits Alarm. Josep Maria Gili, Quallenforscher am Institut der Meereswissenschaften in Barcelona, bestätigte in mehreren Interviews, dass sich die Quallen zu einem echten Problem auswachsen. Immer wieder käme es zu Sichtungen von gigantischen Quallenteppichen, die Fischernetze oder Kühlwassersysteme von küstennahen Industrieanlagen verstopfen. Im Juni dieses Jahres berichteten italienische Zeitungen von einer Quallenplage auf der Insel Elba. Wind und Strömungen trieben unzählige Leuchtquallen (Pelagia noctiluca, sie werden oft als „Feuerqualle“ bezeichnet) in Strandnähe. Ähnliche Szenen auf Mallorca, ein paar Wochen zuvor.

Invasionen

Doch wie kommt es zum Massenauftreten von Quallen? Der österreichische Meeresbiologe Gerhard Herndl möchte es nicht an einem Faktor festmachen, er versteht das Phänomen als Erscheinungsform im Rahmen natürlicher Zyklen: „Bereits vor 20 Jahren gab es eine Invasion von Leuchtquallen in der Adria, mit vielen Hypothesen zu der Plage. Eines Tages verschwanden die Quallen so plötzlich wie sie gekommen waren. Eine Ursache dafür verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Das ist wie beim Wetter – manche Sommer sind heißer, manche regenreicher.“ Auch der Quallenexperte Robert Condon kommt im Rahmen einer Studie der „Global Jellyfish Group“ gemeinsam mit 30 anderen Forschern zum Schluss, dass es keine validen Langzeitdaten gäbe, die die These der weltweiten „Überquallung“ untermauern können. Man wisse viel zu wenig über die unheimlichen Meereswesen.

Eine stabile Sommersituation sei günstig für die Nesseltiere, sagt Herndl: „Quallen mögen kein turbulentes Wasser und lieben warme Temperaturen.“ Auch globale Erwärmung oder Überfischung spielen eine Rolle. Natürliche Fressfeinde würden zunehmend fehlen. Das bestätigt Michael Mitic, Direktor im „Haus des Meeres“ in Wien und Herr über Hunderte Quallen, die dort in einem speziellen Becken schweben (siehe Interview): „Durch die Fischerei fallen die Räuber weg, wobei die ausgewachsene Qualle fast keine Feinde hat. Es sind ihre Larven im Plankton, die den Fischen als Futter dienen.“

Hier muss man den Entwicklungszyklus der Quallen kennen: Sie pflanzen sich über Generationswechsel fort, es gibt zwei Erscheinungsformen. Die in Schwärmen auftretenden Quallen erzeugen frei schwebende Eier und Spermien, woraus Larven entstehen, die sich am Meeresboden festsetzen. Diese werden zu Quallenpolypen, von denen sich frei schwebende Medusen abschnüren – das, was wir als Quallen kennen.

Um deren Geheimnis zu entschlüsseln, gibt es weltweit mehrere übergreifende Quallen-Sichtungs- und Forschungsprojekte. „Med Jellyrisk“ ist eines davon und wird von der Europäischen Union finanziert. Länder wie Tunesien, Malta, Spanien und Italien arbeiten zusammen – ihr Ziel ist es, das Problem in Zukunft besser managen zu können. Dafür sind auch Touristen, Fischer und Taucher aufgerufen, ihre Sichtungen bzw. Begegnungen mit Quallen zu dokumentieren. Unter anderem mit einer speziellen Smartphone-App.

Interview.Manche sagen „Quallen-Peepshow“, wenn sie vom Quallenbecken im Haus des Meeres sprechen. Die Nesseltiere fühlen sich hier wohl, obwohl es nicht einfach ist, eine optimale Umgebung zu schaffen. Direktor Michael Mitic über die Faszination der Quallen.

KURIER: Was ist das Besondere an Quallen?

Zu 99 Prozent bestehen sie aus Wasser. Wenn man ihre Glockenschläge beobachtet, wirken sie sehr anmutig. Tatsächlich können sie sich selbst nicht fortbewegen und sind von Strömungen abhängig.

Im Wasser sehen Quallen nett aus, aber eine persönliche Begegnung ist unangenehm.

Die Quallen haben Nesselzellen, die bei Berührung mit einem Druck von 150 bis 200 bar – wie eine Taucherflasche – die Haut treffen und wie Harpunen eindringen. Eine Qualle kann 15 bis 20 Zentimeter klein sein, zieht aber lange Fangfäden hinter sich her. Das Problem: Man sieht sie nicht.

Nicht jede Qualle ist gleich gefährlich?

Es gibt unterschiedlich nesselnde Arten. Im Mittelmeerraum häufig und gefürchtet ist die Leuchtqualle Pelagia noctiluca, die fälschlicherweise als Feuerqualle bezeichnet wird. Eine Begegnung mit ihr kann unangenehm sein, sie nesselt stark. Im Mittelmeerraum können Quallen jemandem den Urlaub verderben, aber es besteht meist keine Lebensgefahr. Gefährlich kann nur die – seltene – Portugiesische Galeere werden, die im Atlantik beheimatet ist.

Was tun, wenn man von einer Qualle erwischt wird?

Ganz wichtig: Niemals mit Süßwasser abspülen. Das führt dazu, dass die Nesselkapseln explodieren. In vielen Fällen hilft Essig – er wirkt adstringierend, desinfizierend und lässt verbleibende Nesselkapseln austrocknen. Der beste vorbeugende Schutz ist Kleidung.

Quallen sind primitive Wesen?

Ja, sie haben keine zentrale Steuerung, also kein Gehirn. Sie bestehen aus zwei Zelllagen, eine äußere und eine innere, mit einer Stützlamelle dazwischen. Quallen essen und verdauen über eine Öffnung. Auch Atmung ist nicht nötig, denn durch den hohen Wassergehalt ist der Sauerstoff Teil des Körpers. Es handelt sich um eine evolutionär äußerst erfolgreiche Tiergruppe, zwar nicht so erfolgreich wie Kakerlaken, aber immerhin ist sie über den ganzen Globus verteilt.

Und wie hält man sich Quallen?

Das sind heikle Tiere, sie brauchen im Becken sauberes Wasser, dazu muss eine Strömung künstlich erzeugt werden. Quallen dürfen nirgendwo anstreifen.

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