Personalisierte Medizin: "Erst in den Anfängen“

Personalisierte Medizin: "Erst in den Anfängen“
Therapien sollen viel individueller werden: Das ist das Ziel der noch sehr jungen „personalisierten Medizin“.

Rund 40 bis 75 Prozent der Patienten sprechen – je nach Krankheit – auf ihre Medikamente nicht oder nur schlecht an, sagte der Schweizer Pathologe Philipp Heitz Freitag auf dem Symposium „Personalisierte Medizin“ der Österreichischen und Deutschen Akademie der Wissenschaften in Wien. Diese „individualisierte Medizin“ soll durch maßgeschneiderte Diagnosen und Therapien den Erfolg von Behandlungen erhöhen, erläutert der Dermatologe Univ. Prof. Georg Stingl , Co-Organisator des Symposiums.

KURIER: Was bedeutet „personalisierte Medizin“?

Georg Stingl: Zunächst: Es hat nichts mit der persönlichen Zuwendung des Arztes zu tun – die ist seit Hippokrates selbstverständlich. All unser Gewebe und die Zellen bestehen aus Bausteinen, die man heute einzeln identifizieren kann – und das noch dazu mit atemberaubender Geschwindigkeit. Das gilt für die Nukleinsäuren – die DNA, die unsere Chromosomen ausmachen – ebenso wie für alle unsere Eiweißkörper, Fettsubstanzen, Stoffwechselprodukte. Aufgrund dieser Daten wird man die Krankheitsrisiken einer gesunden Person sowie den Krankheitsverlauf einer bereits erkrankten Person vorhersagen können. Weiters werden es diese neuen molekularen Technologien möglich machen, das therapeutische Ansprechen eines Patienten auf ein bestimmtes Medikament vorherzusagen. So kann beispielsweise der Nachweis einer bestimmten genetischen Mutation im Krebsgewebe anzeigen, dass dieser Tumor gegenüber einem bestimmten Medikament empfindlich ist. Das bedeutet aber auch, dass bei Fehlen einer solchen Mutation die Verabreichung des betreffenden Medikamentes sinnlos ist.

Ein konkretes Beispiel?

Gerade beim schwarzen Hautkrebs sind 2011 aufsehenerregende Studien erschienen. Nur dann, wenn die Mutation eines bestimmten Eiweißmoleküls nachgewiesen wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein neues Medikament das Tumorwachstum hemmt. Das verlängert das Leben. Von einer Heilung sind wir aber weit entfernt.

Kritiker sagen, die Erfolge seien bisher bescheiden geblieben, der Zugewinn an Lebenszeit sei nicht sehr groß.

Ich bin keiner, der von einem Durchbruch spricht. Wenn man es als Arzt aus der Distanz sieht, dann kann man sagen: Im Durchschnitt drei Monate länger leben – wie das bei dem Melanommedikament der Fall ist – ist nicht viel. Aber wenn man es aus der Perspektive eines Menschen sieht, der mit einem Krebspatienten zusammenlebt, dann können drei Monate sehr viel und eine sehr wichtige Zeit sein. Und wir sind ja erst in den Anfängen – so wie 1985 bei Aids.

Wieso der Vergleich?

1985 gab es ein Medikament, mit dem man die Vermehrung des HI-Virus blocken konnte. Das Problem war nur: Nach drei Monaten ist das Aids-Virus „ausgerissen“ – so wie heute die Krebszelle ausreißt. Und trotzdem: Obwohl die drei Monate für den Aids-Patienten nicht viel gebracht haben, war das der Beginn einer neuen Erkenntnis: Wenn ich z. B. die Aktivität eines bestimmten Enzyms bl ockiere, kann ich damit die Virusvermehrung hemmen. Heute gibt es 30 Medikamente und HIV-Patienten haben eine lange Lebenserwartung. Auf die Krebszelle übertragen bedeutet das: Man findet bei einem Tumor eine Mutation, auf die ein bestimmter Wirkstoff anspricht – wie beim Melanom. Das verlängert das Überleben um drei Monate. Wenn es mir dann aber gelingt, mithilfe von Gen-Landkarten drei Angriffsziele zu finden, gegen die ich Medikamente habe, dann werden aus den drei Monaten plötzlich ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre ...

Wird in Zukunft jeder sein Gen-Profil kennen?

Heute ist die Sequenzierung („Entschlüsselung“, Anm.) des menschlichen Genoms bereits um 1000 € in kurzer Zeit möglich. In ein paar Jahren wird es zumindest technologisch möglich sein, dass jedes Neugeborene nach seiner ersten Stuhlprobe einen Chip mit seiner genetischen Signatur bekommen kann. Wollen wir das? Wollen wir jedes Baby gleich zum „ewigen Patienten“ machen? Es gibt aber auch noch anderen Risiken und Herausforderungen: Werden die neuen Therapien finanzierbar sein? Werden die Daten vor Missbrauch sicher sein? Ich bin aber trotzdem zuversichtlich, dass wir am Anfang einer neuen Erfolgsgeschichte der Medizin stehen.

Info: Neuer Trend in der Medizin

Definition Personalisierte Medizin versucht unter der Verwendung moderner Diagnostik (z. B. Analyse bestimmter Abschnitte der Erbsubstanz, der DNA) die individuellen Merkmale einer Erkrankung bei einem bestimmten Patienten zu berücksichtigen.

Zur Person Univ.-Prof. Georg Stingl ist Präsident der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er leitet die Klinische Abteilung für Immundermatologie und infektiöse Hautkrankheiten der Uni-Klinik für Dermatologie in Wien.

 

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