Österreicher schlucken immer mehr Psychopharmaka

Rund eine Million Menschen in Österreich leiden an psychischen Erkrankungen.
Anstieg der Umsätze um mehr als 30 Prozent seit 2006.

Der Zuwachs ist deutlich: Um 31 Prozent sind zwischen 2006 und 2013 die Umsätze für Psychopharmaka in Österreich gestiegen, die Zahl der verkauften Verpackungen wuchs um 25 Prozent. Die Umsatzsteigerungen waren deutlich größer als bei anderen Medikamentengruppen (siehe Grafik), ergab eine Studie von Wissenschaftlern der Donau-Universität Krems, NÖ. Die Grundlagendaten stammen vom Arzneimittel-Marktforschungsinstitut IMS Health. "Die Daten sind ein Hinweis darauf, dass Handlungsbedarf besteht, die Versorgung psychisch kranker Menschen in Österreich zu verbessern", so Erstautor Markus Böckle vom Zentrum für Psychosomatische Medizin und Supervision. Knapp eine Millionen Menschen nehmen jährlich Kassenleistungen wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch – ein großer Teil davon Psychopharmaka.

Österreicher schlucken immer mehr Psychopharmaka
Dr. Markus Böckle Honorarfrei
Der Bevölkerungszuwachs (2,5%) und die summierte Inflationsrate (17%) "können den Anstieg der Ausgaben für Psychopharmaka nicht alleine erklären", so Böckle.

Die Autoren sehen mehrere Ursachen:

1. Mehr Erkrankungen

"Europäische Daten zeigen, dass es eine Zunahme der psychischen Erkrankungen gibt – etwa durch steigende Belastungen am Arbeitsplatz und unsichere soziale Verhältnisse."

2. Häufigere Verschreibung

"Viele Mediziner stellten bisher oft biologische Ursachen in den Vordergrund, soziale und psychische Auslöser wurden weniger beachtet. Hier findet aber ein Umdenken statt."

3. Kaum Kassen-Psychotherapie

"Nach wie vor fehlt ein Gesamtvertrag mit den Kassen", sagt Böckle: Die Zahl der kassenfinanzierten Plätze ist gering, viele Patienten müssen sich eine Psychotherapie – abgesehen vom Kassenzuschuss (zumeist 21,80 €) – selbst zahlen. "Das können sich viele nicht leisten, Psychopharmaka gibt es auf Kassenkosten." Deshalb gibt es bei der Psychotherapie auch keinen derartigen Anstieg.

Für die Einzelperson seien ausschließlich Psychopharmaka zwar ein kurzfristiger finanzieller Vorteil – langfristig überwiegen aber die Nachteile: "Durch regelmäßige zusätzliche Anwendung von Psychotherapie können die Gesamtkosten für die Betreuung psychisch kranker Menschen im ambulanten Bereich um 24 %, im stationären Bereich um 37 % reduziert werden." Und langfristig sei das neuerliche Auftreten psychischer Probleme bei ausschließlicher Medikamententherapie wahrscheinlicher als bei einer Kombination von Psychotherapie und Psychopharmaka. Grundsätzlich sei die Wirkung von Psychotherapie mit jener von Medikamenten vergleichbar: "Und häufig braucht es eine Kombination."

4. Wenig Kassenpsychiater

Böckle: "Die ersten Therapeuten sind häufig die Allgemeinmediziner und da sind Psychopharmaka oft die Therapie der ersten Wahl – das ist auch für leichtere Fälle richtig so. Aber für komplexere Fälle mangelt es teilweise an einer Abklärung des Krankheitsbildes durch einen Psychiater. Dies liegt an der in vielen Regionen problematisch geringen Dichte von niedergelassenen Kassenpsychiatern."

Könnten Medikamente und Psychotherapie öfter kombiniert werden, "dann wäre wahrscheinlich der Anstieg bei den Psychopharmaka nicht so hoch ausgefallen".

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