Ökosystem Darm beeinflusst die Psyche
So etwas gelingt nicht alle Tage: Wissenschafter aus den Niederlanden und den USA haben ein neues Darmvirus entdeckt, mit dem jeder zweite Mensch infiziert sein soll. "Es ist sehr ungewöhnlich ein Virus zu entdecken, das in so vielen Menschen vorkommt", sagt Robert Edwards von der San Diego State University. Das Virus dürfte eine Rolle bei der Entstehung chronischer Krankheiten wie Diabetes spielen. Denn es infiziert Darmbaktterien und kontrolliert diese – in welcher Form ist allerdings noch unklar.
Täglich erscheinen derzeit neue Forschungsarbeiten über die Mikroorganismen, die den Magen-Darm-Trakt besiedeln. "Diese Mikroorganismen stellen ein riesiges Ökosystem dar, dessen Bedeutung für Gesundheit und Krankheit erst allmählich ins Bewusstsein rückt", sagt der Gastroenterologe Univ.-Prof. Peter Holzer von der MedUni Graz.
"Übergewicht, Stoffwechselerkrankungen, Autoimmunerkrankungen und sogar psychische Störungen können durch eine Unausgewogenheit im Mikrobiom des Darms ausgelöst werden", sagt der Forscher. So zeigte kürzlich eine Studie, dass bei depressiven Menschen auch die Zusammensetzung der Darmflora verändert ist: "Welche Bedeutung das tatsächlich für die Erkrankung hat, können wir noch nicht sagen."
Rasche Veränderung
"Wir wissen heute, dass sich durch eine Umstellung der Ernährung die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Darm bereits innerhalb eines Tages ändern kann", so der Gastroenterologe Prim. Univ.-Prof. Ludwig Kramer vom Krankenhaus Hietzing. Zehnjährige Kinder aus Bologna, Italien, und Burkina Faso, Afrika, die im Rahmen einer Studie untersucht wurden, hatten eine komplett unterschiedliche Zusammensetzung ihrer Darmflora.
Mäuse, die in einer keimfreien Umgebung aufwuchsen, erreichten nur 60 Prozent des für sie normalen Gewichts. Injizierte man ihnen allerdings Stuhl von dicken Mäusen, wurden sie – bei gleichbleibender Ernährung – ebenfalls dick: "Offenbar konnte über Bakterien im Stuhl die Energieaufnahme erhöht werden."
Kramer verweist noch auf ein anderes Beispiel: Wer viele (flüssige) Kohlenhydrate (z.B. in Softdrinks) und Süßigkeiten isst, hat mehr Bakterien in seiner Darmflora, die Kohlenhydrate (auch Stärke und Zellulose) aufspalten und verstoffwechseln können. "Der Darm holt also mehr Energie aus diesen Kohlenhydraten – und in der Regel sind das Menschen, die ohnehin schon übergewichtig sind. Die nehmen dadurch noch mehr zu."
Entzündeter Darm
Bei Kindern, die in den ersten Lebensjahren mehr als sieben Mal Antibiotika verschrieben bekamen, stieg das Risiko für eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) auf das Dreifache: "Möglicherweise wurden durch die Therapie vor den Erkrankungen schützende Keime aus der Darmflora entfernt", so Kramer.
Deshalb werden Patienten mit chronischer Darmentzündung in Studien Stuhlteilchen gesunder Menschen verabreicht – etwa über eine Darmspielung. Bei mehreren Patienten konnte dadurch bereits eine deutliche Linderung der Symptome erreicht werden.
In einem großen EU-Projekt ("MyNewGut") – unter Beteiligung der MedUni Graz – sollen in den kommenden fünf Jahren Zusammenhänge von Fehlernährung, Darmorganismen und Auswirkungen auf die Gehirnfunktion untersucht werden. Holzer: "Hier sind noch sehr viele Fragen ungeklärt."
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