Wie ein europäisches Wir-Gefühl entstehen kann
Der Südtiroler Landeshauptmann hat eine europäische Staatsbürgerschaft vorgeschlagen. Doch vom EU-Pass bis zum europäischen Wir ist es ein langer Weg. Wie der aussehen könnte, erklärt der Philologe Michael Metzeltin.
KURIER: Früher hätte niemanden in der EU interessiert, wie Wahlen in Frankreich ausgehen. Heute ist das anders. Entsteht ein europäisches Wir-Gefühl?
Michael Metzeltin: Prinzipiell würde ich "Ja" sagen: Das Interesse für andere Länder hat zugenommen – zumindest sieht man in Medien, dass andere Länder präsent sind. Was ich nicht beurteilen kann, ist, ob das Interesse nur in bestimmten Schichten beginnt. Inwieweit man heute am Stammtisch z. B. über Katalonien spricht, weiß ich nicht.
Gibt es für ein Projekt wie die EU ein Vorbild oder ist es etwas originär Europäisches?
Europäisch ja, aber nicht sehr neu. Wir haben das Beispiel Schweiz. Diese hat Jahrhunderte gebraucht, um zu einem föderalen Staat zu werden. Eine EU kann man in 70 Jahren nicht so weit bringen.
Es gibt aber Ressentiments.
Ich würde eher sagen Spannungen. Bis zum 19. Jahrhundert war es normal, dass man Deutsch gesprochen hat. Die Anerkennung der Mehrsprachigkeit auf föderaler Ebene ist eine relativ junge Errungenschaft.
Was könnte die EU aus der Schweizer Geschichte lernen?
Den vernünftigen Gebrauch des Referendums – nicht plebiszitär, nicht populistisch. In der Schweiz ist das sehr komplex: Man muss dabei von unten nach oben gehen, von Gemeinden zum Kanton zum Bund und retour. Es braucht viel, viel Information, weshalb jeder vor der Abstimmung eine Broschüre erhält. Darin kommen Parteien, politische Institution mit ihren Vorschlägen zu Wort. Jeder kann sich ein Bild machen. Wo bekommen wir diese Informationen in der EU? Wo war z.B. die Vorbereitung des Brexit-Referendums?
Wie hat man es geschafft, verschiedene Kantone zu einer Gemeinschaft zu formen?
Auch die Schweiz hatte Bürgerkriege, den letzten im 19. Jahrhundert. Es gab Auseinandersetzungen mit dem Ergebnis der Kompromissfähigkeit, wozu gehört, dass man viele Parteien anhört.
Ein sehr langer Prozess.
Einverstanden. Oft wird gesagt: "Die Schweiz ist eine Ausnahme und das Modell kann man nicht anwenden." Wenn man das sagt, hält man uns für dumm. Das ist ein langer Prozess, aber den muss man initiieren.
Auch die Schweiz ist vor Populismus nicht gefeit.
Da ist die Schweiz ein Land wie viele. Es ist eine Frage, ob wir das Problem der fehlenden Solidarität lösen können. Ich glaube schwer. Ein Phänomen, das schon das Christentum gesehen hat: Eine der Todsünden ist Gier bzw. Geiz – eine Konstante in vielen Gesellschaften. Die muss man versuchen einzugrenzen. Die Schweiz ist auch nicht befreit von gierigen Menschen.
Viele haben Angst davor, Identität und Heimat zu verlieren. Grund ist auch die Migration. Wird ein Zugezogener aus Europa anders bewertet als jemand aus dem islamischen Kulturraum?
Migranten sind ein normales Phänomen – wir sind alle Migranten. Wenn Migranten zu einzelnen Gruppen gehören, entwickeln sie eigene Kulturen, also Sprachen, Religionen, Bräuche etc. Wenn diese Eigenarten sehr verschieden sind, kommt es zu Auseinandersetzungen: Warum soll ich z. B. etwas essen, was ich noch nie gegessen habe? Anpassung ist ein langer Prozess.
Wie kann man Menschen so integrieren, dass die europäische Identität Teil ihrer Identität wird?
Zuerst müssen wir uns bewusst werden, dass wir ohne Identität nichts sind. Wenn wir keinen Namen haben, keine Geburtsurkunde, gibt es uns zwar, aber irgendwie auch nicht. Identität muss erst aufgebaut werden. Wir haben aber alle nicht eine, sondern mehrere Identitäten: sprachlich, religiös, sogar landschaftlich. Die Identität ist ein Bündel von sehr verschiedenen Phänomenen.
Dennoch haben viele das Gefühl, dass ihre Identität als Ganzes infrage gestellt wird.
Es sieht so aus, als ob es nur eine Identität gäbe, weil das Gros der Menschen sich kaum aus seinem Dorf bewegt hat – deren Bündel an Identitäten fällt zusammen. Für mich persönlich, der ich wie viele in der Welt herumgekommen bin, sind verschiedene Identitäten kein Problem. Ich verstehe aber, dass für andere z. B. das Wechseln in andere Sprachen etwas Unheimliches ist. Man muss die Bevölkerung vor Ort verstehen und erklären, dass es normal ist, verschiedene Identitäten zu haben. Migranten, die diese plurale Identität haben, sind wohl nicht das Problem.
Das Problem sind die, die ebenfalls eine Blockidentität haben?
Ja. Es ist die große Frage, wie man die Identitäten auflösbar und flexibler macht, sodass sie ineinanderwachsen können. Man sollte z. B. akzeptieren, dass der andere etwas isst – etwa Ameisen –, was ich nicht tun würde, aber nicht nie den anderen zwingen, etwas zu essen. Der springende Punkt ist ein anderer: Wir haben Verfassungen, die man akzeptieren muss. Das müssen wir von allen einfordern, die zu uns kommen. Und: Jeder muss die Hauptsprache des Landes lernen, sonst kann er nicht am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Auch in der EU sollte es nicht genügen, dass man nur Englisch spricht, wenn man länger in einem anderen Land lebt.
Fühlen sich die Menschen in der EU als Teil der europäischen Kultur?
Wir haben mit der EU eine Art übernationalen Staat, der wahrscheinlich heute sinnvoll ist. Das heißt: Es gibt eine Zentrale, die versuchen muss, eine gewisse Homogenisierung zu erzielen. Wenn die Zentrale zu stark wird, ist es eine normale Reaktion, dass sich Regionen stärker auf sich besinnen; darauf, was sie geleistet haben und worin sie sich unterscheiden. Man will sich nicht gleichmachen, weshalb wir Nationalstaaten brauchen – als Vermittler zwischen Zentrale und Region. Deshalb brauchen wir nationale Identitäten, genauer nationalstaatliche Identität.
Wo liegt der Unterschied?
Wir sollten heute Staatsbürgernationen sein – Staaten von Bürgern, die in einem bestimmten historischen Kontext zusammengekommen sind, und deshalb die viel zitierten Werte haben, die von einer Region zur anderen anders sein können. Dann gibt es die allgemeinen, die berühmten europäischen Werte: griechische Philosophie, römisches Recht, eine bestimmte Form des Christentums etc. Und vor allem die Aufklärung und der Verfassungsstaat. Das unterscheidet uns von vielen anderen Staaten in der Welt. Menschenrechte sind eine europäische, keine amerikanische Erfindung, zu der wir stehen sollen, ohne zu sagen, alle Staaten der Welt müssen nach diesem Modell gehen.
Sie befürworten also einen Verfassungspatriotismus?
Ja, dass man zum Rechtsstaat steht. Dieser muss in der Verfassung verankert sein. Die Gerechtigkeit muss hinzukommen – Rechtsstaat heißt nicht, dass alles gerecht ist. Wir brauchen Kooperation, wir haben Konvergenzen in der Wirtschaft. Solche Übereinstimmungen brauchen wir auch in der Gesellschaft, was heißt: Solidarität ist innerhalb der EU gefragt. Wir können aber nicht alle gleich ziehen – auch im Falle der Einwanderungspolitik. Dass von oben bestimmt wird, alle müssen da sofort mitziehen, geht nicht. Das bedeutet: Wir brauchen mehr Dialog und müssen auf historische Kontexte eingehen – die Geschichte Ungarns ist ja nicht die Frankreichs. Dasselbe gilt für Universitäten: Ich halte es nicht für sinnvoll, dass die Programme von Lissabon bis Oslo alle gleich sind – die Bolognastruktur ist eine zu große Gleichmacherei, die als solche nicht durchgeführt werden kann.
Michael Metzeltin: Der geborene Tessiner (CH) ist emeritierter Professor für Romanistik an der Uni Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Gemeinsam mit Thomas Wallmann hat er über „Wege zur Europäischen Identität“ (Frank und Timme) sowie über „Desiging a European Constitution“ (Präsens Verlag) geschrieben.
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