Mehr aufs Bauchgefühl hören

Wir leben in ständiger Reizüberflutung – und glauben, jedes Risiko im Griff zu haben. Dabei wären einfache Regeln oft effizienter.

Von Zeit zu Zeit versuchen Wissenschaftler, das Leben zu berechnen: Wie man sich verliebt. Wie man Erfolg hat. Was Glück ausmacht. Menschen wird so Sicherheit vorgegaukelt. Dabei sei jedes Risiko einfach zu managen, sagt der deutsche Risikoforscher Gerd Gigerenzer. Stattdessen wird es immer öfter ausgeblendet. Wir verlassen uns lieber auf die Stimmen anderer und wiegen uns in trügerische Sicherheit. „Wenn etwas schiefgeht, erzählt man uns, künftige Krisen ließen sich durch bessere Technik, mehr Gesetze oder aufwendigere Bürokratie verhindern.“

In seinem neuen Buch „Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ fordert Gigerenzer mehr Risikokompetenz des Einzelnen. Im KURIER-Gespräch bricht er eine Lanze für die Intuition.

KURIER: Herr Professor, ist eine risikofreie Welt möglich?

Gerd Gigerenzer: Nein. Solange wir leben, haben wir Risiko. Befreit davon sind wir erst nachher.

Wir glauben ja, alles beherrschen zu können. Sind wir denn so realitätsfremd?

Die Menschen streben eine Illusion der Gewissheit an. Das heißt, man sucht Sicherheiten, wo keine sind. Menschen suchen sie an unterschiedlichen Orten, manche in Astrologie, Religion, im Kaufen von Versicherungen. Oder auch darin, ihre Computer mit Terabytes an Information zu füllen. Aber diese Illusion der Gewissheit ist das größte Risiko darin, risikokompetent zu werden.

Was heißt Risikokompetenz?

Das ist die Fähigkeit, auch mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und nicht berechnet werden können. Das ist eine Grundvoraussetzung, um sich in der Welt mit ihren halsbrecherischen technischen Entwicklungen zurechtzufinden.

Was brauchen wir dazu?

Zuerst statistisches Denken. Das heißt, Zahlen zu verstehen – dort, wo man die Risiken berechnen kann. In einer Welt von Ungewissheit – das sind die meisten Teile unseres Lebens – reicht statistische Information nicht aus. Wen soll man heiraten, welchen Job akzeptieren? Was macht man mit dem Rest seines Lebens? Das kann man nicht alles berechnen.

Was ist noch wichtig?

Gute Intuition – und robuste Faustregeln. Wissenschaftlich nennen wir das Heuristiken. Das sind Prinzipien, die in einer Welt, in der man nicht alles vorhersagen kann, helfen, einigermaßen zurechtzukommen. Es gibt Faustregeln unterschiedlichster Art. Zum Beispiel kann man nicht jedem Menschen blind vertrauen. Das muss man abschätzen.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Eine Faustregel wäre, bei Entscheidungen vorab ein bestimmtes Niveau zu bestimmen. Sobald man etwas gefunden hat, das diesem Niveau entspricht, soll man zugreifen. Diese Faustregel kann man sehr breit anwenden. Sie schützt auch vor der Meinung, dass man in einer Welt aus Ungewissheit das Optimum finden könnte – den besten Mann der Welt, den optimalen Job. Das sind Illusionen, die zu Enttäuschungen führen können.

Wir fürchten uns vor vielen Dingen, die uns gar nicht unmittelbar betreffen. Ist Angst ein starker Motor hinter falschen Entscheidungen?

Gerade hier ist es wichtig, Risikokompetenz zu entwickeln. Also zu verstehen, dass es kein Null-Risiko gibt. Und abzuwägen, wie groß diese Risiken im Vergleich zu anderen sind und wie ich mich informieren kann. Anstatt immer nur das zu übernehmen, was die jeweilige soziale Bezugsgruppe fürchtet. Das ist auch ein Schritt der Aufklärung und Emanzipation mit der eigenen Furcht.

Sie sagen, Kompetenz ist etwas Intuitives. Sollten wir mehr auf unser Bauchgefühl hören?

Intuition ist gefühltes Wissen, das sehr schnell im Bewusstsein ist, dessen Gründe man aber nicht erklären kann. Es ist aber keine Willkür, wie viele denken. Auch kein sechster Sinn oder eine göttliche Eingebung, sondern eine Form von unbewusster Intelligenz. Intuition beruht auf sehr viel Erfahrung. Aber das Ergebnis selbst kann man sich nicht erklären. Genauso wie viele nicht wissen, wie man sich die Schuhbänder bindet oder wie man Auto fährt. Das wird durch das Unbewusste gesteuert. Viele unserer Kompetenzen sind intuitiv. Das bedeutet aber nicht, dass sie zweitklassig sind.

Ist das erlernbar?

Natürlich. Genauso wie ein Fußballspieler lernen muss, ein Tor aus einem unglaublichen Winkel zu schießen. Aber wenn man ihn fragt, wie er das gemacht hat, kann er es nicht erklären. Auch ein Kleinkind lernt seine Muttersprache intuitiv. Wenn es aber als Erwachsener eine Zweitsprache erwirbt, lernt dieser Mensch nicht intuitiv sondern über die Grammatik.

Was braucht man noch für Risikokompetenz?

Um zu seiner Intuition zu stehen, braucht man auch Selbstvertrauen. Denn viele haben das große Problem, dass sie zwar eine innere Stimme hören. Aber sie trauen sich nicht, öffentlich dazu zu stehen, darauf eine Meinung aufgebaut zu haben.

Ich habe DAX-Manager von großen börsenotierten Firmen interviewt. Etwa die Hälfte der wichtigen Entscheidungen wird dort intuitiv gefällt. Das heißt, man spürt nach langem Herumrechnen, wo es hingehen soll – kann es aber nicht erklären. Die meisten dieser Manager werden das aber nicht in der Öffentlichkeit sagen, weil man in unserer Gesellschaft Vorurteile gegenüber guten Bauchentscheidungen hat. Da wird beispielsweise ein Mitarbeiter abgestellt, der zwei Wochen lang nach Gründen sucht. Dann wird die ganze Entscheidung als begründet dargestellt.

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