Wenn Medizin zu Fast-Food-Ware wird

Die Medizin selbst droht zum Patienten zu werden.
Der deutsche Medizinethiker Giovanni Maio warnte in Wien vor einer Industrialisierung der Medizin.

Eine "Aushöhlung der Medizin durch Ökonomie" – davor warnte der deutsche Internist und Philosoph Univ.-Prof. Giovanni Maio bei einem Vortrag vor der Gesellschaft der Ärzte in Wien. Maio hat den Lehrstuhl für Medizinethik an der Universität Freiburg inne und leitet dort auch das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin.

Wenn Medizin zu Fast-Food-Ware wird
Giovanni Maio https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2017-03-20-Giovanni_Maio-hart_aber_fair-0110.jpg
KURIER: Wieso höhlt die Ökonomie die Medizin aus? Wirtschaftliches Denken ist doch sinnvoll.

Giovanni Maio: Natürlich. Ökonomisches Denken ist ja auch nicht das Gegenteil von medizinischem Denken – es ermöglicht ja erst die Medizin, indem man eben keine Ressourcen verschwendet und Geld für kluge Investitionen zur Verfügung hat. Ich kenne keinen Arzt, der Geld verschwenden will. Aber bei dem, was wir heute erleben, geht es nicht um Wirtschaftlichkeit. Es geht um ein Sparprogramm, das über die Medizin verhängt wird. Es wird so getan, als wäre sie eine Industrie und man überträgt die Logik der industriellen Produktion auf die Medizin.

Inwiefern?

Es werden alle Schritte beschleunigt. Zeit wird als negativer Aufwand gesehen. Mehr Patienten in kürzerer Zeit durchzuschleusen – das ist der Trend. Dabei wird übersehen, dass die Zeit in der Medizin kein Verbrauch ist, den man minimieren muss, sondern die zentrale Investition in die Qualität. Die Ärzte werden in ein System hineingetrieben, in dem sich niemand mehr dafür interessiert, wie die Beziehung zwischen Arzt und Patient aussieht, wie miteinander gesprochen wird. Die Medizin ist aber eine Disziplin, bei der man erst über das Gespräch erkennt, was zu tun ist. Und sie handelt nicht schematisch, sondern muss dem Individuum gerecht werden. Heute versucht man hingegen alles in Schemen zu pressen. Generell steht immer mehr nur das Messbare im Vordergrund.

Das Messbare ermöglicht aber doch oft erst eine wirksame, individuelle Behandlung – Stichwort "Personalisierte Medizin" in der Krebstherapie.

Das ist leider ein Etikettenschwindel. Man spricht von personalisiert und suggeriert, das man auf die individuelle Person eingeht. Aber tatsächlich geht es nur um bestimmte biologische Merkmale, Biomarker. Nach ihrem Vorhandensein oder nicht richtet sich dann die Therapie. Wirklich personalisiert ist aber erst eine Therapie, die auch "Soziomarker" untersucht – die sich für das Leben des Patienten interessiert, und nicht nur für einzelne biologische Merkmale.

Hat eine strukturierte Vorgangsweise mit Leitlinien nicht Vorteile? Unterstützt das nicht den Therapieerfolg?

Der Arzt muss zunächst herausfinden: Passt der Patient überhaupt in diese oder jene Leitlinie? Die Kunst des Arztes besteht ja darin, das allgemeine Wissen auf den Einzelfall anzuwenden. Ich bin nicht für eine Medizin der Beliebigkeit und der reinen Intuition. Aber der Arzt muss durch Zuhören und Verstehen die Situation des Patienten in ihrer Gesamtheit erfassen, um die passende Therapie zu ermitteln. Dazu muss er auch die Freiheit haben, von der Leitlinie, von einem schablonenhaften Vorgehen, abzuweichen.

Hat er diese Möglichkeit nicht?

Ärzte und Spitalsträger erhalten Anreize dafür, dass so wenig Zeit wie nur möglich beim Patienten verbracht wird. Ich würde fast schon von einer Fast-Food-Medizin reden: Diese hat Fertigtherapien parat und setzt die Patienten auf bestimmte Schienen, ohne sich mit den Menschen näher zu beschäftigen. Die Industrialisierung der Medizin schafft die ärztliche Kunst ab. Der Patient wird als Objekt gesehen, aber nicht als Individuum wahrgenommen und verstanden. Dabei benötigt der Patient in seiner Situation der Bedürftigkeit nicht nur einen Fachexperten, sondern auch ein verstehendes Gegenüber. Fehlt das, ist ein Vertrauensverlust zwischen Arzt und Patient die Folge. Das geht auf Kosten der Qualität. Bestimmte Patientengruppen werden darunter zunehmend leiden.

Welche meinen Sie konkret?

Ältere Patienten mit vielen, komplexen Krankheiten vor allem – sie werden für das Gesundheitssystem immer uninteressanter, weil sie sehr viel Aufwand bedeuten. Hier gibt es die Tendenz, dass sich die Medizin zurückzieht. Diese Patienten werden oft nur Hin- und Hergeschoben und abgefertigt. Aber es wird nicht wirklich in ihre Behandlung investiert.

Welche Lösungen sehen Sie?

Es muss viel mehr anerkannt und honoriert werden, dass ein Arzt, der gut beraten hat, eine große Leistung vollzogen hat. Man muss den Aufwand honorieren, nicht die Steigerung der Patientenzahlen. Was wir heute sehen, ist ein Einsparen an den Arbeitsbedingungen der Ärzte. Auf Dauer wird sich das rächen – weil dann viele Ärzte entweder innerlich resignieren oder ihre Freude am Beruf verlieren werden. Die meisten Ärzte benötigen keine Boni, keine Belohnung, für das, was sie tun. Man müsste sie einfach nur gute Medizin machen lassen.

Ein Treppenlift, ein Aufzug, barrierefreie Sanitäranlagen: Das 1893 eröffnete Billrothhaus der Gesellschaft der Ärzte in Wien (der Chirurg Theodor Billroth war damals ihr Präsident) in der Frankgasse in Wien-Alsergrund wird „zukunftssicher gestaltet“, wie der heutige Präsident Univ.-Prof. Walter Hruby betont. Neben baulichen Modernisierungen gab es 2016 auch 50 Eigenveranstaltungen (vor allem Fortbildungen für Ärzte) und 120 Fremdveranstaltungen.

Das Billrothhaus kann heute auch für Kongresse, Symposien oder Workshops gemietet werden. Das Gebäude mit der eindrucksvollen historischen Bibliothek soll auch zunehmend der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert werden. So nimmt das Billrothhaus heuer am 24.9. erstmals am „Tag des Denkmals“ teil.

Kommentare