Keine reine Kinderkrankheit mehr: 64-Jähriger mit Masern
"Wir können nicht mehr sagen, dass Masern eine Kinderkrankheit sind. Der älteste Patient heuer ist 64 Jahre alt. Und das ist kein Einzelfall." Das sagte Pamela Rendi-Wagner, Leiterin der Sektion Öffentliche Gesundheit und medizinische Angelegenheiten im Gesundheitsministerium, anlässlich eines dreitätigigen Aufenthaltes von WHO-Masernexperten in Wien.
Zwischen 1.1. und 20.4. 2015 wurden in Österreich bereits 147 Masernfälle gemeldet - das sind mehr als im gesamten Jahr 2014 mit 117 Fällen. Die meisten Fälle wurden von Niederösterreich und Oberösterreich gemeldet. Ein großer Anteil sind junge Erwachse, 20- und 30-Jährige: "Aber die sind eine gefährliche Infektionsquelle für Unter-Einjährige und immungeschwächte Menschen."
Fünf Säuglinge waren ebenfalls unter den heuer Infizierten, die aufgrund ihres jungen Alters noch nicht geimpft werden konnten (das ist frühestens ab elf Monaten möglich). "Säuglinge sind am stärksten durch Komplikationen und Spätfolgen gefährdet." Bei den fünf Säuglingen gab es auch Übertragungen innerhalb desselben Spitalszimmers bzw. Ansteckungen in Wartezimmern und Ansteckungen durch Gesundheitspersonal.
Aber auch Erwachsene gehören zu den besonders gefährdeten Gruppen: "Diese Verlagerung der Masern von den Kinder zu den Erwachsenen führt dazu, dass wir mehr schwere Krankheitsverläufe sehen", sagt WHO-Experte Mark Muscat: "Es kommt bei Erwachsenen zu mehr Komplikationen wie Lungen- oder Hirnentzündungen."
Laut WHO-Spezialistin Abigail Shefer gebe es in Österrreich vor allem drei Gründe, weshalb es im Gegensatz zu mehreren Nachbarstaaten (etwa Tschechien, Slowakei, Ungarn oder Slowenien) noch nicht gelungen sei, die Masern auszurotten:
- Eine hohe Zahl von nicht-geimpften Personen im Gesundheitsbereich.
- Viele ungeimpfte junge Eltern
- Ein fehlendes zentrales, österreichweites Register der Durchimpfungsraten. "Die Bundesländer müssen uns zwar die Daten melden, aber es gibt neun verschiedene Arten der Erhebung. Diese Daten zusammenzuführen ist schwierig", sagt Rendi-Wagner.
Seit Jänner 2014 - dem Zeitpunkt des Starts einer großen Info-Kampagne des Ministeriums zum Thema Masern - konnte die Zahl der von den Bundesländern abgerufenen Impfungen um 23 Prozent gesteigert werden. Bezüglich des Gesundheitspersonals ist die Ausarbeitung einer eigenen Qualitätsleitlinie geplant, mit der Impfungen des Gesundheitspersonals als medizinischer Standard verankert werden sollen.
Volksanwaltschaft für kleine Impfpflicht
Angesichts der niedrigen Impfzahlen gegen Masern und Röteln spricht sich die Volksanwaltschaft jetzt für eine "kleine Impfpflicht" aus. Diese soll in öffentlichen Kinderkripppen, Kindergärten und Schulen gelten, und zwar für Betreuungspersonal und Kinder, forderte Volksanwalt Günther Kräuter (SPÖ) am Mitttwoch. Rechtlich möglich wäre dies. Außerdem sollte der Impfnachweis von Beschäftigten in Ambulanzen, Kinderabteilungen, Intensivstationen und im Empfangsbereich von Krankenhäusern längst Standard sein, so die Volksanwaltschaft.
Die Masernfälle in Wels und Graz sorgen derzeit für Verunsicherung, vor allem bei jenen, die mit den Betroffenen in Kontakt waren. Darunter sind nicht nur Schulkollegen des in Wels erkrankten HTL-Schülers, sondern auch jene 150 bis 170 Kinder, die mit der infizierten Krankenpflegerschülerin an einer Ambulanz zu tun hatten. Was passiert, wenn man mit einem Infizierten Kontakt hatte? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen:
Was kann man machen, wenn man Kontakt mit einem Infizierten hatte?
Die Gesundheitsbehörde sieht einen klaren Ablaufplan vor, wenn ein Masernfall, etwa in einer Schule, auftritt. Wenn jemand Kontakt mit einem Infizierten hatte, erfolgt in der Regel eine sogenannte Abriegelungs-Impfung. Das bedeutet, Personen, die mit dem Infizierten zu tun hatten, erhalten die übliche Masernimpfung. „Je weniger Zeit zwischen dem Kontakt mit der infizierten Person und der Impfung vergeht, desto effizienter wirkt diese. Nach einer Woche ist der Schutz nicht mehr so gut gegeben“, sagt Infektiologe Herwig Kollaritsch.
Wie ansteckend sind Masern?
Wenn klar ist, dass ein Kontakt stattgefunden hat, sollte eine mögliche Infektion abgeklärt werden. Kollaritsch: „Ein Infizierter steckt im Schnitt zwölf bis 18 weitere an. Zum Vergleich: Bei Grippe sind es im Schnitt zwei Personen.“ Hinzu kommt, dass das Virus in der Luft und auf infizierten Oberflächen, z.B. auf Türschnallen bis zu zwei Stunden infektiös bleiben kann.
Woran kann man eine Infektion erkennen?
Erste Symptome treten erst etwa 14 bis 21 Tage nach der Infektion auf. Dazu zählen anfangs Unwohlsein, Fieber, Entzündungen der Atemwege und der Bindehaut sowie der für Masern charakteristische Hautausschlag. Bei etwa 20 Prozent der Erkrankten kommt es zu Komplikationen bis hin zu Gehirnhautentzündungen. Einer von 1000 Masernerkrankten stirbt.
Was sollte passieren, wenn ein Masernfall im persönlichen Umfeld auftritt?
In Österreich müssen alle Masernfälle an die Gesundheitsbehörde gemeldet werden. Personen aus dem Umfeld werden in weiterer Folge kontaktiert und untersucht bzw. geimpft – sofern dies bekannt ist, etwa bei Klassenkollegen in einer Schule.
Wann sollte ich meinen Impfstatus prüfen lassen?
Den Impfstatus zu überprüfen, schadet nicht. Die Impfung kostet je nach Labor ca. 13 Euro bis 19 Euro. Impflücken gibt es bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen bis 45, die als Kleinkinder noch nicht zwei Mal gegen Masern geimpft wurden. Und die Jahrgänge 1966 bis 1976 haben – sofern nicht ein natürlicher Schutz durch eine Erkrankung im Kindesalter besteht – einen Impfstoff erhalten, der heute wahrscheinlich nicht mehr wirkt. Bis 45 Jahre ist der Impfschutz kostenlos.
Was sieht der Impfplan vor?
In Österreich sind zwei Masern-Impfungen im zweiten Lebensjahr vorgesehen (ab dem elften Lebensmonat, nach frühesten vier Wochen die zweite Impfung), noch vor zehn Jahren war die erste Teilimpfung im 2. Lebensjahr, die zweite im Schulalter vorgesehen. Bei fehlender Immunisierung ist eine „Nachimpfung“ in jedem Alter zu empfehlen.
Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation, Masern bis Ende dieses Jahres auszurotten, dürfte alles andere als realistisch sein. Alleine in Europa haben sich seit Jänner 2014 mehr als 22.000 Menschen angesteckt – in Österreich waren es zuletzt 144. Der Tod eines Kindes in Berlin entfacht teilweise aggressiv geführte Diskussionen zwischen Impfbefürwortern und Kritikern. Zwar ist der Schutz der Kinder vor schwerwiegenden Krankheiten durch eine Impfung als Grundrecht bei den Vereinten Nationen festgeschrieben, dennoch haben viele Eltern Zweifel an der Sicherheit der Impfstoffe und Ängste vor schweren Impfreaktionen. Der KURIER bat eine Impf-Expertin und einen Kritiker um Stellungnahmen zu den wichtigsten Fragen rund um die Impf-Debatte.
- Wie häufig kommen Impfschäden wirklich vor?
Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass Impfschäden in Österreich nicht oder kaum erfasst werden, sagt der Kinderarzt Reinhard Mitter und verweist auf das Meldesystem in Deutschland. Beim dortigen Paul-Ehrlich-Institut wurden 2012 insgesamt 2580 Meldungen verzeichnet, davon 13 Todesfälle und 36 mit einem bleibenden Schaden. Doch auch in Österreich werden Nebenwirkungen erfasst. Bei der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit gab es im Jahr 2013 insgesamt 287 Meldungen. Das würde dem oftmals zitierten 1-zu-10-Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich entsprechen. Der Großteil davon (95 Prozent) waren leichte Reaktionen wie Rötungen oder harmlose Schwellungen. Todesfälle gab es keine. Acht Kinder litten unter schweren Nebenwirkungen – dazu zählen aber auch Fälle wie ein zweitägiger Spitalsaufenthalt wegen Fiebers. Die Zusammenhänge mit einer Impfung müssen erst geklärt werden. Grundsätzlich gelte es, zwischen Impfreaktionen und Nebenwirkungen zu unterscheiden, betont Univ.-Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt vom Institut für Spezifische Prophylaxe an der MedUni Wien. 2010 und 2011 wurden in Österreich 36 Verfahren nach dem Impfschadengesetz geführt und sechs davon bestätigt – diese gehen größtenteils auf heute nicht mehr verwendete Impfstoffe zurück.
- Welche Nebenwirkungen sind nach einer Impfung normal – und welche nicht?
Rötungen, Schmerzen, Lymphknotenschwellungen bis hin zu temporären Fieberschüben sind normal – darauf sollte auch der Arzt hinweisen. Mitter: "Von außergewöhnlichen Impfreaktionen spricht man, wenn ein Kind Fieberkrämpfe hat, Nervenstörungen aufweist oder wenn Komplikationen eintreten, wie etwa, dass es plötzlich nicht mehr krabbelt oder sitzen kann." Jede Impfreaktion, die für Eltern beunruhigend ist, werde von Ärzten und Spitälern meist bagatellisiert, kritisiert der Kinderarzt. "Man muss die Sorgen der Eltern ernst nehmen und Impfreaktionen dokumentieren."
Grafik: So stehen Österreicher zur Schutzimpfung
- Sind Masern eine harmlose Kinderkrankheit?
Hier spalten sich die Meinungen. Für Wiedermann-Schmidt sind Masern "ganz sicher" nicht harmlos. "Früher hatte fast jedes Kind Masern und man hat übersehen, wie viele Fälle schlecht ausgegangen sind." Die Immunologin warnt am meisten vor den Gefahren für ungeimpfte Säuglinge – "eine Ansteckung kann dramatisch bis hin zu tödlich verlaufen".
Für den Kinderarzt Mitter gehören Masern hingegen zu den harmlosen Kinderkrankheiten, weil das Risiko einer Gehirnhautentzündung sehr klein sei (1 zu 1000 bei Ungeimpften, bei Geimpften liegt das Risiko bei unter 1 zu 1 Mio., Anm.). "Wenn ich ein Kind habe, das von der Erkrankung einen Schaden davon getragen hat, ist das natürlich schrecklich. Impfungen schützen, aber wir sehen die Frage der Krankheitsbekämpfung zu eng. Die Frage ist, ob sich durch die Ausrottung der einen Krankheit nach Jahrzehnten nicht neue Krankheiten oder Viren entwickeln. "
- Kann eine Masern-Impfung Autismus, Allergien oder ADHS auslösen?
Für Wiedermann-Schmidt ist die Faktenlage klar: "Hier wurden lange Zusammenhänge mit Impfungen behauptet. Heute ist das dank guter Studien eindeutig widerlegt." Die Autismus- Behauptung rühre aus einer Lancet-Studie, die 1998 veröffentlicht wurde – diese wurde aber als wissenschaftliche Fälschung aufgedeckt. Ein Studienvergleich in den 90er-Jahren zwischen Ost-Deutschland, wo es eine Impfpflicht gab, und West-Deutschland habe gezeigt, dass geimpfte Kinder sogar weniger oft unter Allergien und Asthma leiden. Mitter: "Bei den Studien sind die Erkenntnismethoden zu eng und umfassen nicht das ganze Spektrum der Erfassungsmöglichkeit."
- Unter welchen Umständen ist bei einer Impfung Vorsicht geboten?
Mitter rät im ersten Lebensjahr sowie bei einer Veranlagung in Richtung Allergien, bei chronischen Erkrankungen und nach auffälligen Impfreaktionen zu Vorsicht. Nach Ansicht von Wiedermann-Schmidt gibt es bei gesunden Kindern und Erwachsenen keinen Grund, den offiziellen Impfempfehlungen nicht zu folgen. Bei schweren Erkrankungen oder Operationen müsse die Situation individuell mit dem Arzt besprochen werden. Je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger Risiken gebe es für jene, die (noch) nicht immunisiert sind.
- Welche Gefahren gehen von den Inhaltsstoffen Aluminium und Thiomersal aus?
Mitter: "Quecksilber (Thiomersal, Konservierungsmittel) wird nicht mehr eingesetzt, aber Aluminium ist ein potenter Schadstoff, wie man an aktuellen Diskussionen rund um Aluminium in Deos und in Lebensmitteln sieht. Wie man sieht, konnte man das Quecksilber aus den Impfungen rausnehmen, warum geht das nicht beim Aluminium?" Wiedermann-Schmidt kontert: "Wenn man sich um Aluminium sorgt, ist der Anteil, den man über eine Impfung bekommt, verschwindend gering. Schon bei kleinen Kindern ist die wöchentliche Aluminiumaufnahme durch die Nahrung 7- bis 23-mal höher als durch eine Impfung." Damit bewege man sich weit unter den offiziellen Grenzwerten.
- Wie gut sind die empfohlenen Impfstoffe geprüft?
Über die Sicherheit sind sich die Mediziner einig. "Bevor ein Arzneiprodukt auf den Markt kommt, muss es 6 bis 10 Jahre lang strenge Studien zu Sicherheit und Wirksamkeit durchlaufen. Danach wird es noch mindestens fünf Jahre überprüft und bei Auffälligkeiten vom Markt genommen", sagt Wiedermann-Schmidt. Mitter stimmt zu und verweist darauf, dass Nebenwirkungen im Beipacktext aufgelistet sind.
- Warum bekommen Kleinkinder schon einen Sechsfach-Impfstoff (Diphtherie, Tetanus, Pertussis/Keuchhusten, Poliomyelitis/Kinderlähmung, Hepatitis B und Hämophilus influenzae B/HIB)? Ist das notwendig?
Mitter hat erst selten schwere Nebenwirkungen erlebt, doch "es gibt eine gewisse Hemmung, einem gesunden Kind mehrere Antigene zu verabreichen. Prinzipiell vertragen sie das. Es geht um die Zusatzstoffe und den Zeitpunkt der Impfung." Wiedermann-Schmidt: "Wir hatten in den 60er- und 70er-Jahren Ganzkeimimpfstoffe, die bis zu 3000 Partikel (Antigene) enthalten haben, die eine schützende Immunantwort auslösen. Im heutigen Sechsfach-Impfstoff sind es 23. Die heutigen Impfstoffe sind um viele Stoffe bereinigt, die früher Nebenwirkungen ausgelöst haben. Die Qualität ist heute sehr hoch." Der Impfschutz sei in diesem Alter besonders wichtig, um das Immunsystem darauf vorzubereiten, Erkrankungen leichter abzuwehren.
- Wie geht jemand, der impfkritisch ist, jetzt am besten vor?
"Man sollte hinterfragen, warum jemand so kritisch ist, die Grundlage orten und dann aufklären", sagt Wiedermann-Schmidt. "Macht sich jemand Sorgen, weil sein Kind krank oder der Nachbar Impfgegner ist?" Mitter kritisiert, dass Eltern von vielen Ärzten zum Impfen gedrängt werden, statt Aufklärung zu bekommen. Der Kinderarzt geht mit gutem Beispiel voran und organisiert in seiner Ordination Impfrunden, in denen er mit Eltern Nutzen und Risiken diskutiert.
- Warum sind gerade jetzt viele Erwachsene von Masern betroffen? Sollte jeder zwischen 20 und 45 Jahren seinen Impfschutz prüfen lassen?
In den 70er-Jahren wurde ein Impfstoff verwendet, der keine lebenslange Immunität bewirkt, erklärt Wiedermann-Schmidt. Auch vielen Erwachsenen fehle heute die Immunität, weil sie etwa nur eine Impfung erhalten haben. Sie rät dazu, den Impfschutz beim nächsten Arztbesuch zu checken und gegebenenfalls nachzuholen. Dem stimmt auch Mitter zu, "weil die Komplikationen in diesem Alter höher sind".
- Wäre eine Impfpflicht für Masern sinnvoll?
"Gesundheit darf nie verpflichtend sein", betont Mitter und verweist auf die individuelle Entscheidung. Eine Impfpflicht hält auch Wiedermann-Schmidt nicht für richtig. "Jetzt ist aber ein guter Zeitpunkt, vermehrt über die Bedeutung von Impfungen aufzuklären."
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