Krisen sind komplexer geworden

Krisen sind komplexer geworden
Seit 35 Jahren hilft das Kriseninterventionszentrum Menschen in kritischen Lebenslagen.

Ehe-, Partnerschafts- und Trennungskonflikte stehen an der Spitze: Bei rund 55 Prozent aller Menschen, die 2012 im Wiener Kriseninterventionszentrum Hilfe suchten, waren Beziehungsprobleme der Auslöser für eine Lebenskrise. Gleich dahinter kamen familiäre Konflikte (33 %), Probleme im Arbeitsbereich (31,9 %), Todesfälle (19,2 %), Gewaltdrohungen- und Handlungen (20,7%) sowie traumatische Ereignisse (12 %): Seit 1977 unterstützt die Ambulanz des Kriseninterventionszentrums Wien Menschen, in den Alltag zurückzufinden. Und wendet Suizidfälle ab.

Über die Jahre stieg die Zahl der Klienten: „Aber nicht, weil die Gewalt zunimmt, sondern weil die Menschen offener über ihre Probleme reden“, erklärt der ärztliche Leiter des Zentrums Dr. Claudius Stein im KURIER-Gespräch. „Der gesellschaftliche Wandel stellt hohe Anforderungen an die Menschen. Die Krisen werden komplizierter und komplexer, sie wirken sich auf mehrere Lebensbereiche aus. Auch die derzeitigen ökonomischen Schwierigkeiten haben große, meist negative Folgen. Der Druck am Arbeitsplatz wächst, viele fühlen sich dem nicht gewachsen.“

Krisenanfällig

Von einer besonders krisenanfälligen Gruppe will Stein nicht sprechen: „Eine Krise kann jeden Menschen in jeder Lebensphase treffen. Es stellt sich eher die Frage, wie jemand damit umgeht.“ Vor allem ältere Menschen kämpfen mit der Angst, ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu verlieren. Doch nur wenige suchen professionelle Hilfe. „Sie gehören einer Generation an, für die es nicht normal ist, sich Unterstützung zu holen. Sie machen das oft mit sich selbst aus. Männer über 85 Jahren haben ein neunfach höheres Suizidrisiko als Jüngere“, sagt Stein.

Obwohl die Zahlen rückläufig sind, nahmen sich im vergangenen Jahr immerhin 1286 Menschen das Leben. Während die Suizidrate im städtischen Bereich in den 1980er Jahren höher war, ist es nun umgekehrt: Selbstmord kommt am Land deutlich häufiger vor. Aus Angst vor Stigmatisierung verzichten viele auf professionelle Hilfe. In der Stadt ist die Akzeptanz dafür deutlich höher, medizinische und psychosoziale Hilfsangebote sind besser ausgebaut.

Soziale Faktoren

Claudius Stein verweist auf die sozialen Faktoren, die in ländlichen Gebieten eine Rolle spielen. So sind Bezirke wie Hartberg und Murau, die in Österreich die höchste Suizidrate haben, Regionen mit niedrigem Einkommen, vielen Landarbeitern und kleinem Wohnraum. Im Kriseninterventionszentrum setzt man präventiv auf Schulungen. Aktuelles Beispiel ist ein Projekt zur Sensibilisierung von Allgemeinmedizinern. „Gerade Hausärzte haben oft den ersten Kontakt zu Menschen, die in Krisen sind oder suizidal werden.“ Untersuchungen zeigten, dass Personen vor einem Suizid in 70 Prozent der Fälle den Hausarzt aufgesucht hatten. Stein sieht hier Potenzial für Früherkennung sowie in vielen Fällen eine Interventionsmöglichkeit.

Eine Lebenskrise birgt – so sie gut ausgegangen ist – auch Möglichkeiten, sie hat zwei Gesichter. „Eine Krise ist keine Krankheit, sie kann sehr bedrohlich sein, aber sie bietet auch Chancen. Wir machen immer wieder Erfahrungen, dass Menschen mit sehr schwierigen Lebenssituationen zurechtkommen, sich weiterentwickeln und stärker werden“, sagt Stein.

35 Jahre Kriseninterventionszentrum

1977 wurde das Kriseninterventionszentrum Wien von Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel und Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck gegründet. Ein Team aus Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern bietet Unterstützung in Form von Beratungen, Kurztherapien, psychotherapeutischen Interventionen und begleitender medizinischer Hilfe. Pro Jahr werden rund 1650 Menschen persönlich beraten und behandelt. Das Angebot ist mit keinen direkten Kosten verbunden. Neben einer telefonischen Beratung gibt es seit August 2012 auch eMail-Beratung (anonym).
Nähere
Informationen zu Angebot und Erreichbarkeit unter: www.kriseninterventions-zentrum.at



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