Kopfschmerz ist keine Einbildung
Sie zählen zu den häufigsten Schmerzformen: Kopfschmerzen. „Alleine von Migräne sind bis zu 15 Prozent der Bevölkerung betroffen“, sagt der Neurologe Priv.-Doz. Gregor Brössner, Leiter der Kopfschmerzambulanz an der Klinik für Neurologie der MedUni Innsbruck. Neue Medikamente und Therapieformen helfen einem großen Teil der Patienten.
KURIER: Was kann eine gute Migränetherapie erreichen?
Gregor Brössner: Das Ziel der Attackentherapie ist, dass die Patientin oder der Patient innerhalb von zwei Stunden schmerzfrei ist oder die Schmerzintensität zumindest deutlich reduziert ist und auch die Lebensqualität während der Attacke steigt. Das bedeutet, dass die oder der Betroffene im besten Fall auch während der Attacke arbeitsfähig bleibt. Dies kann – bei fachgerechter Anwendung – häufig bereits mit herkömmlichen Schmerzmitteln bzw. mit speziellen Migräne-Medikamenten – Triptanen – erreicht werden. Unbehandelte Attacken dauern meist ein bis zwei Tage.
Gleichzeitig kann man mit vorbeugend eingesetzten Medikamenten – etwa Betablocker, Antiepileptika, Kalziumantagonisten – die Zahl der Attacken reduzieren. Hier ist das Ziel eine Halbierung der Häufigkeit. Bei fachgerechter Behandlung durch einen Neurologen gelingt dies auch in den meisten Fällen. Unrealistisch ist zu glauben, man nimmt ein Medikament und ist unmittelbar danach schmerzfrei.
Wann wird Botox eingesetzt?
Die seit wenigen Monaten in Österreich zugelassene vorbeugende Therapie mit Botulinumtoxin kommt bei Patienten mit chronischer Migräne zum Einsatz: Diese Patienten haben an mehr als 15 Tagen im Monat Kopfschmerzen, davon sind zumindest acht Tage mit Migräneattacken. Und sie sprechen auf andere vorbeugende Medikamente unzureichend an. Den Patienten wird an 31 Stellen rund um den Kopf Botulinumtoxin injiziert, nach zwölf bzw. 24 Wochen wird die Therapie wiederholt. Bei einem Teil der Betroffenen kommt es zu einer deutlichen Verringerung der Anfall-Häufigkeit. Wie lange der Effekt anhält, wissen wir allerdings noch nicht, Langzeiterfahrungen mit der Therapie gibt es noch keine.
Welche Behandlungsmöglichkeiten der Migräne gibt es noch?
Regelmäßiger Ausdauersport hat sich sehr bewährt, sehr gute Daten gibt es auch zum Biofeedback: Auf den Nacken geklebte Elektroden messen die Muskelspannung, die auf einem Bildschirm angezeigt wird. Unter Anleitung eines Physiotherapeuten lernt man, mithilfe von Atem-, Entspannungs- und Konzentrationstechniken – wie etwa der progressiven Muskelentspannung nach Jacobson – seine Muskelspannung zu reduzieren. Bei der Akupunktur ist die Datenlage widersprüchlich, in manchen Studien zeigten sich positive Effekte, in anderen nicht. Belegt ist auch eine Wirkung ergänzender Magnesiumeinnahme.
Helfen Diäten oder Verzicht auf Lebensmittel wie Schokolade?
Meistens sehr wenig. Die Schokolade wird in der Mehrheit der Fälle zu Unrecht verdächtigt. In der Vorphase einer Migräneattacke, vor dem Auftreten der Kopfschmerzen, kommt es durch die Abläufe im Gehirn zum Heißhunger, zum „Food Craving“. In unseren Breiten stillt man ihn meistens mit Schokolade, aber man könnte genauso gut Gummibären essen, dann würden diese als Auslöser beschuldigt werden. Wenn jemand wirklich den Eindruck hat, dass ein bestimmtes Lebensmittel Migränesymptome verstärkt, soll man dieses eine Produkt weglassen. Diäten hingegen führen häufig zu Frustration und Stress – und Stress verstärkt Migränesymptome.
Wie diagnostiziert ein Neurologe die Kopfschmerzursache?
Unser erster Schritt ist es zu unterscheiden: Ist der Kopfschmerz die Erkrankung selbst – wie bei Migräne, Cluster- oder Spannungskopfschmerz –, dann ist es ein primärer Kopfschmerz. Oder ist er nur das Symptom einer anderen Erkrankung wie z. B. einer Gehirnblutung oder eines Gehirntumors. Ist ein solcher sekundärer Kopfschmerz ausgeschlossen, basiert die exakte Diagnose einer primären Kopfschmerzerkrankung auf einer genauen Anamnese, also auf den Erzählungen des Patienten. Deshalb ist eine gute Arzt-Patienten-Beziehung wichtig.
Wie reagiert die Umgebung?
Viele Betroffene sagen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen und unter dem Vorurteil leiden, sie würden sich die Schmerzen einbilden. Dabei ist heute wissenschaftlich unumstritten, dass dieser nichts mit Einbildung zu tun hat. Mit neuen bildgebenden Verfahren – funktioneller Magnetresonanztomografie – können wir den Schmerz teilweise sogar sichtbar machen. Wir wissen heute, dass das Gehirn von Patienten mit Migräne oder Clusterkopfschmerz während einer Attacke ganz einfach anders funktioniert. Außerdem sind in den vergangenen Jahren einige genetische Ursachen für Migräne entdeckt worden, die Teilbereiche der Neurobiologie dieser Erkrankung erklären.
Wer regelmäßig ohne ärztliche Kontrolle rezeptfreie Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen einnimmt, riskiert, dass die Schmerzen stärker und häufiger werden: „Ein ursprünglicher Grundkopfschmerz kann sich durch einen übermäßigen Gebrauch von Medikamenten verschlechtern“, sagt Neurologe Brössner. Wer länger als drei Monate an mehr als zehn Tagen im Monat Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen einnimmt, hat gemäß Definition bereits einen solchen „schmerzmittelbedingten Kopfschmerz“ im Rahmen dieser Chronifizierung.
„Wahrscheinlich kommt es zu einer Filterfunktionsstörung. Reize, die normalerweise nicht schmerzhaft sind, werden plötzlich als schmerzhaft wahrgenommen.“ Überdies können auch andere Organe geschädigt werden. „In solchen Fällen muss man dann – ambulant oder stationär – einen Schmerzmittelentzug machen, was sehr unangenehm sein kann. Aber das ist die Voraussetzung, um die Zahl der Attacken wieder zu reduzieren und auch die Attacken selbst wieder gut behandeln zu können“, betont Brössner.
Die „Österreichische Gesellschaft für Neurologie“ (ÖGN) ist die Dachorganisation der Neurologen. Auf www.oegn.at gibt es Infos über neurologische Erkrankungen – von Demenz und Epilepsie über Migräne, Multiple Sklerose bis zu Parkinson und Schlaganfall.
Kopfschmerz-GesellschaftUmfassende Patienten-Infos bietet auch die Homepage der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft: www.oeksg.at
WeltkongressDie österreichische Neurologie genießt international einen ausgezeichneten Ruf – ein Grund dafür, dass Wien vom 21. bis 26. 9. die Gastgeber-Stadt des 21. World Congress of Neurology (WCN 2103) sein wird. Der Weltkongress der Neurologie ist die größte und wichtigste Veranstaltung dieses medizinischen Fachgebietes. 8000 bis 10.000 Teilnehmer werden erwartet.
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