Tabu: Der Alltag in der Kinderpsychiatrie
Da ist der Teenager, der "wie die anderen sein" will und gegenüber seiner Therapeutin hofft, dass "ich mich bald ändere". Da ist die fast 18-Jährige, deren zerschnittene Oberarme langsam heilen und dicke Narben hinterlassen. Und da ist der Siebenjährige, der nicht im Klassenzimmer auf der Station lernen möchte und tobend über den Gang kriecht. Sie alle sind Patienten der Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln. Und sie sind einige jener Protagonisten des Dokumentarfilms "Wie die anderen", die ihren Alltag und ihre Gespräche mit Ärzten und Therapeuten filmen ließen.
Es ist ein ungeschönter, ein unkommentierter Blick auf eine häufig noch immer tabuisierte Seite unserer Gesellschaft. "Es bestehen viele Vorurteile und Unwissen, was auf einer Abteilung dieser Art mit den Kindern passiert", weiß Univ.-Prof. Andreas Karwautz, Präsident der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Aber darf man Kinder und Jugendliche, die wegen psychischer Probleme stationär behandelt werden, überhaupt so zeigen? Diese Frage sorgte schon vor dem Kinostart am 11. September für Diskussionen in Fachkreisen. Die Jugendlichen würden zur Schau gestellt, ihre Persönlichkeitsrechte seien trotz Zustimmung von Eltern oder den Rechtsvertretern nicht ausreichend geschützt. Für andere trägt der Film wiederum zu einer Enttabuisierung bei.
Sogar in der Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie gingen die Meinungen auseinander. Für Karwautz kann von Voyeurismus keine Rede sein. "Dass sich Jugendliche zeigen dürfen, wie sie sind, mit ihren Problemen und gegenüber einer qualifizierten Öffentlichkeit, kann für sie selbst sehr wichtig sein." Den Vorwurf der Stigmatisierung lässt Regisseur Christian Wulff am wenigsten gelten. Die Anonymisierung in einem Dokumentarfilm sei "Stigmatisierung im doppelten Sinn", betonte er öfters.
Prim. Paulus Hochgatterer, in dessen Abteilung gedreht wurde, sieht in der Thematisierung gar eine Chance. "Kinder- und Jugendpsychiatrie ist etwas, das man zeigen darf und nicht verstecken muss." Das Ziel sollte sein, "dass das etwas Selbstverständliches ist".
Hoher Therapiebedarf
In Österreich leiden bis zu 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen an psychischen Störungen. Etwa die Hälfte davon sind behandlungsbedürftig. Karwautz: "Es besteht weiter ein riesiger Mangel an Betten, Tageskliniken, Ambulanzen und niedergelassenen Fachärzten in diesem Fachbereich." Trotz guter Entwicklungen (z. B. Tirol, Kärnten, Steiermark) gebe es noch immer nur zu maximal 50 Prozent versorgte Regionen.
Im stationären und tagesklinischen Bereich sollten in Österreich laut internationalen Kennzahlen rund 800 Plätze zur Verfügung stehen. Tatsächlich sind es nur die Hälfte. Dass zuletzt etwa in Wien sechs neue Kassenstellen für Kinder- und Jugendpsychiatrie im niedergelassenen Bereich geschaffen wurden, ist für Hochgatterer "ein Tropfen auf dem heißen Stein."
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