KURIER: Ja, Herr Geißler, haben Sie schon eine Idee, welche Entwicklungen Pandemie und Lockdown angestoßen haben?
Geißler: Einerseits gab es Entschleunigung, denn die Zeitfresser brachen zusammen. Nehmen Sie nur jene Zeiten, die die Gesellschaft als in Stein gemeißelt betrachtet und die Stress machen – etwa, dass man die Kinder immer um acht Uhr in der Schule abgegeben haben muss. Gleichzeitig versetzte Homeschooling die Menschen aber in die Situation, dass sie ihre Zeit selbst organisieren mussten. Das macht auch Zeitstress.
Derzeit sieht so aus, als würde sich kurzfristig in Sachen Zeitorganisation gar nichts ändern. Es gibt einen starken Bedarf, das Alte wieder herzustellen. Das Alte ist das Zeichen, dass die Pandemie überwunden ist. Dann aber wird man merken, dass wir während dieser Zeit Erfahrungen gemacht haben, die möglicherweise besser sind. Erfahrungen sind wirkmächtig. Vielleicht schätzen Eltern – nach dem Homeschooling – die neue Zeitqualität mit ihren Kindern und wollen sie künftig nicht mehr nur täglich in der Schule abgeben. Vielleicht werden die Leute – sofern sie das Homeoffice als positiv erlebt haben – es in Zukunft verstärkt einfordern.
Das wird wohl nicht friktionsfrei abgehen. Sehen Sie die Gefahr von sozialem Sprengstoff?
Genau, da wird sich viel tun, die Arbeitszeitgesetze werden sich verändern. Während der Pandemie wurden massive Erfahrungen der Selbstorganisation von Zeit gemacht. Das wird man nicht wegwischen können.
Wobei es Menschen gibt, die diese Selbstorganisation besser beherrschen als andere.
Ja, die Gesellschaft wird sich jetzt nicht mehr nur nach Einkommen differenzieren, sondern auch nach Formen der Zeitorganisation.
Wird es – analog zu Wohlstandsverlierern – Zeitorganisationsverlierer geben?
Das hängt stark davon ab, inwieweit der Stress an die unteren Schichten delegiert wird. Jene Freiheiten, die ich durch die neue Zeitorganisation in der Pandemie gewonnen habe, sind möglicherweise Zwänge für andere. Da muss man genau hinschauen.
Das könnte wen betreffen?
Pflege- und Putzpersonal etwa. Die müssen die Freiheit der anderen absichern. Und das reduziert ihre eigene Freiheit. Gleichzeitig erleben wir gerade einen kompletten Umbruch in unserer Zeitorganisation. Hin zu noch mehr Beschleunigung. Wir werden die Zeit zunehmend verdichten. Wir machen immer mehr in derselben Zeit.
Das hält man aber nur schwer aus!
Richtig. Wenn sich alles beschleunigt, müssen Sie schneller werden oder rascher reagieren. Das ist das neue Modell. Und alles Neue muss erst einmal erlernt werden.
Das widerspricht jetzt aber Ihrem neuen Buch: „Immer mit der Ruhe“ ist eine Einladung an die Langsamkeit.
Deshalb habe ich ja jetzt das Plädoyer für die Langsamkeit geschrieben. Im Lockdown haben wir erlebt, wie still, schön und langsam eine autofreie Stadt sein kann. Nach dieser Erfahrung fällt die Hektik doppelt auf und löst bei manchen Sehnsucht aus. Darum meine Aufforderung: „Leute schaut hin und lauft der Zeitverdichtung nicht so nach, dass ihr selbst verdichtet werdet. Nutzt die Zeitverdichtung, um auszuwählen, um zu verzichten.“ In dieser neuen Gesellschaft müssen wir lernen, zu ignorieren.
Was sollen wir Ihrer Meinung nach ausblenden?
Zum Beispiel die Apps auf unserem Handy. Verzichten Sie darauf, ständig alles zu öffnen. Lernen Sie, nicht mehr auf jedes Bimmeln und Brummen Ihrer vielen elektronischen Geräten zu reagieren. Auch wenn ein Anruf reinkommt, muss man nicht gleich abheben. Es gibt Mailboxen. Man kann die Nachricht anhören, wenn man Zeit hat. Das ist viel stressfreier. Wir leiden heute unter dem Zuviel, nicht dem Zuwenig.
Buchtipp: Karlheinz A. Geißler:„Immer mit der Ruhe. Leben ist zu schön für Hast und Hektik“ Herder-Verlag. 14,40 Euro.
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