Jürgen Czernohorszky: Jede zweite Wiener Schule kämpft mit sozialen Problemen

Czernohorszky in seinem Büro in der Wipplingerstraße
Der Wiener Stadtschulratspräsident über die speziellen Herausforderungen der Stadt und über Lösungsansätze.

Seit Jürgen Czernohorszky im Dezember 2015 Wiener Stadtschulratspräsident wurde, weht ein neuer Wind im Haus, erzählen Mitarbeiter über seinen offenen Führungsstil. Seine Problemlösungskompetenz musste er bereits nach 100 Tagen im Amt beweisen: Der KURIER-Bericht über die NMS Gassergasse in Wien löste eine österreichweite Diskussion über das Versagen des Bildungssystems aus. Wie der 39-jährige Vater zweier Töchter damit umgeht und was seine Ziele für das neue Schuljahr sind, sagt er im Interview.

KURIER: In einer guten Woche beginnt die Schule. Welches Ziel haben Sie sich persönlich gesetzt?

Jürgen Czernohorszky: Mein Ziel ist es, ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Schulbehörden und Schulleitern weiter zu entwickeln – letzteren kommt eine Schlüsselrolle zu. Gerade in schwierigen Situationen zeigt sich, dass in den Standorten ein großes Potenzial steckt.

Beispiel Gassergasse: Gemeinsam haben wir Lösungsansätze ausgearbeitet. Es werden etwa unterschiedlich große Gruppen auf unterschiedlichem Niveau etabliert und je nach Begabung unterrichtet. Das kann man machen, wenn man mit den Ressourcen freier umgehen kann. Eine Mischung aus Verantwortung und Autonomie ist also die Lösung. Gemeinsam werden Ziele festgelegt, die überprüft werden. Hierfür müssen wir gemeinsam mit dem Bund optimale Rahmenbedingungen schaffen. Heißt: Weg von einer Verordnungskultur hin zu einer Vereinbarungskultur.

Individualisierung wird oft als Allheilmittel verkauft. Die Praxis sieht aber meist anders aus. Wie kann man die Pädagogen hierzu befähigen?

Lehrern nur zu sagen: "Macht das!", reicht nicht. Unser Haus ist da ein Thinktank für Modelle und es braucht eine entsprechende Fortbildung für Pädagogen. Auch mittels e-Learning kann ich Ziele auf ein Kind zuschneiden.

Ein Sozialindex soll dafür sorgen, dass Schulen in Problembezirken mehr Ressourcen erhalten. Wie weit ist man da in Wien?

Die Städte haben es deutlich schwerer – so stehen in Wien 56 Prozent der Schulen unter hohen oder sehr hohen sozialen Herausforderungen. Da sollte man im Finanzausgleich nicht versuchen, mit der Gießkanne alle zu beglücken.

Jürgen Czernohorszky: Jede zweite Wiener Schule kämpft mit sozialen Problemen
Interview mit dem Präsidenten des Stadtschulrats für Wien Jürgen Czernohorszky in seinem Büro. Wien, 04.03.2016.
Aber wir haben auch unseren Garten zu bestellen. Überall dort, wo es Zusatzressourcen für den Schulbetrieb gibt, arbeiten wir mit den gleiche Parametern wie bei einem Sozialindex. Bei der Gratis-Nachhilfe hat jede Schule eine Basisausstattung. Die, die besonders viel Hilfe brauchen, bekommen mehr. Ähnliches gilt für das Unterstützungspersonal in den Schulen.

Es wurden hundert Schulsozialarbeiter für Wien versprochen. Kommen die heuer?

Das ist ein Projekt der Stadt Wien, wofür Bildungsstadträtin Sandra Frauenberger die Mittel herausgeboxt hat. Wir werden damit heuer starten.

Thema Bildungspflicht bis 18: Haben Sie schon Pläne, wie man diese umsetzen kann?

Hierfür ist eine Kooperation zwischen Stadt und dem Stadtschulrat nötig. Wir müssen wissen, was der einzelne braucht. Ein Patentrezept für alle gibt es nicht, aber ich habe Ideen für Lösungsansätze. Zum einen: Wir müssen so früh wie möglich fördern. Das beginnt im Kindergarten und geht weiter bei der Volksschule. Denn je älter ein Kind ist, desto schwieriger ist es. Wir können nur noch reparieren und nicht fördern. Für das gezielte Fördern von älteren Schülern müssen im Rahmen der Schulautonomie die Ressourcen besser genutzt werden. Ein Beispiel: Wenn ein 14-jähriger nicht lesen kann, dann kann man erst einmal zum Beispiel auf Biologie oder Geschichte verzichten. Dann ist die Hauptaufgabe, ihm das Lesen beizubringen. Daran werden wir mit Schulen arbeiten.

Die Radikalisierung unter den Jugendlichen nimmt zu. Sowohl rechtsradikales als auch islamistisches Gedankengut werden immer populärer. Ist demokratische Bildung nicht auch Sache der Schule?

Die Schule ist die zentrale Institution der Demokratie. Demokratie braucht kritikfähige, mündige, offene und emanzipierte Bürger. Das können Jugendliche in der Schule werden.

Ich stelle aber fest, dass in der ganzen Gesellschaft etwas schief läuft. Die Schule kann einen Beitrag zur Demokratisierung leisten. Dafür ist es notwendig, dass junge Menschen in der Schule merken, was eine demokratische Gesellschaft bedeutet. Das ist eine Frage von gemeinsamen Verhalten. Man diskutiert Regeln, macht sich die aus und hält sich an sie. Hierfür braucht es eine demokratische Pädagogik, heißt: Es gibt nicht einer vor und andere gehorchen. Neben dem Erwerb von Grundkompetenzen ist es Hauptaufgabe der Schule, zu lernen, ein soziales Wesen zu sein.

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