Jeder fünfe Erwachsene in Europa leidet an Schmerzen

Seelenleid wirkt sich im Körper aus.
Das Thema Schmerz ist auch eine Herausforderung für die Politik, sagten Experten bei einem internationalen Symposium.

Schmerzzustände als Symptom oder als eigenständige Erkrankung „schneiden“ buchstäblich durch die Gesellschaft. „Das trifft weit mehr Menschen als die Patienten selbst“, sagte am Freitag Joop van Griensven, Präsident der Europäischen Schmerz-Allianz bei einer Pressekonferenz beim internationalen Symposium der Plattform zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Schmerz (SIP) in Valetta (Malta).

Einstellung zum chronischen Schmerz

„Chronische Schmerzzustände beeinträchtigen die Lebensqualität des Leidenden schwer. Jeder fünfte Erwachsene in Europa leidet an chronischen Schmerzen. 25 Prozent davon können nicht am gesellschaftlichen Leben voll teilhaben. Das hat körperliche und psychische Auswirkungen - auf den Betroffenen selbst, auf seinen Partner, seine Kinder, die Eltern und Großeltern, die Nachbarn und viele Andere. Es ist Zeit, dass auch die Politik ihre Einstellung zum Problem des chronischen Schmerzes ändert“, sagte Griensven. Studien haben ergeben, dass in Europa etwa 153 Millionen Menschen allein an Migräne leiden. 200 Millionen Personen haben oft schmerzhafte Krankheiten des Bewegungs- und Stützapparates und etwa hundert Millionen Personen leiden an anderen Formen chronischer Schmerzen. Oft überschneiden sich die verschiedenen Grundkrankheiten.
Dabei existiert noch nicht einmal eine offizielle und in Medizin, Politik und Gesellschaft anerkannte Definition, was unter den Begriff „chronischer Schmerz“ zu verstehen ist.

Der deutsche Experte Thomas Tölle von der Europäischen Schmerz-Föderation (EFIC) legte Donnerstagnachmittag bei einer Plenarsitzung im Rahmen des Symposiums einen Entwurf vor: Chronischer Schmerz kann demnach zusammen mit anderen Krankheiten auftreten, aber auch die einzige Diagnose eines Betroffenen darstellen. Als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen kann der chronische Schmerz aber auch länger anhalten als die Grunderkrankung besteht. Gerade diese uneinheitlichen Charakteristika führen zu Problemen und zu oft geringer Hilfe für die Patienten. „Wenn ich mit chronischem Schmerz zum Arzt gehe und dann ohne Diagnose heimkomme, reicht mir das nicht aus“, sagte Liisa Jutila von der Europäischen Schmerz-Allianz. Zu leicht werde das Problem auch in den Bereich der Psychiatrie geschoben.

Neue Plattform für Schmerz

Die EU will über eine Plattform für alle Beteiligten ein Werkzeug für Kooperation und Informationsaustausch bieten, sagte bei der Pressekonferenz Martin Seychell, Stellvertretender Generaldirektor der DG für Gesundheit und Ernährungssicherheit: „Wir haben viele Vorzeigemodelle. Aber sie 'reisen' nicht. Diese Vorzeigemodelle sollten vergrößert werden. Best Practice-Modelle sollten in Zukunft den Standard ausmachen.“ EFIC-Präsident Bart Morlion fasste die Forderungen zusammen: Etablierung einer EU-Plattform zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Schmerzzuständen, Entwicklung von entsprechenden Messinstrumenten, Mittel, um den Einfluss von chronischem Schmerz auf die Beschäftigung zu erfassen, mehr und intensivere Bildung und Ausbildung in Sachen Schmerz sowie mehr Investments in die Forschung. „Studenten der Veterinärmedizin erfahren in vielen Ländern mehr über Schmerz als angehende Humanmediziner“, kritisierte Morlion.

"Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?" Werden Patienten nach einer Operation in der Visite so gefragt, kommt als Antwort oft "Es geht schon", sagt der Anästhesist und Schmerzmediziner Wolfgang Jaksch, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Schmerzmedizin (ÖSG). "In so einer Situation will halt jeder ein guter Patient sein."

Anders sei es, wenn ein Patient routinemäßig drei Mal am Tag vom Pflegepersonal nach seinen Schmerzen gefragt wird: "Dann sind die Hemmungen geringer, offen über Schmerzen zu reden."

Gemeinsam mit den Fachgesellschaften für Anästhesie, Chirurgie und dem Gesundheits- und Krankenpflegeverband organisierte die Schmerzgesellschaft diese Woche in zahlreichen Spitälern eine Befragung von Spitalspatienten am ersten Tag nach ihrer Operation.

Kleine "Entgegen den Erwartungen sind bei kleineren Operationen wie Mandelentfernung, Entfernung der Gallenblase oder des Blinddarms die Schmerzen häufig stärker als bei umfangreichen Eingriffen", so Jaksch. "Bei großen Eingriffen gibt es viel häufiger Konzepte für eine mehrstufige Schmerztherapie."

Geringere Schmerzhemmung

Wer hingegen nach einem kleinen Eingriff über Schmerzen klage, werde – zumindest hinter vorgehaltener Hand – oft als wehleidig hingestellt: "Aber das ist falsch. Es gibt Menschen mit einer fehlenden bzw. gering ausgeprägten körpereigenen Schmerzhemmung. Das hat nichts mit Wehleidigkeit zu tun."

Risikogruppen dafür sind u.a. jüngere Frauen, Patienten, die schon vor dem Eingriff an chronischen Schmerzen litten bzw. eine ausgeprägte Angst vor Operationen haben, sowie Patienten, bei denen es im Rahmen eines Eingriffs zu Nervenverletzungen kam.

Jeder fünfe Erwachsene in Europa leidet an Schmerzen
grafik
Wer am ersten Tag nach einer Operation starke Schmerzen hat, dessen Risiko ist hoch, dass dieser Schmerz chronisch wird, betont Jaksch: "Internationale Daten zeigen, dass ein Patient von hundert nach einer Operation so starke chronische Schmerzen entwickelt, dass ihn das dauerhaft in seiner Lebensqualität beeinträchtigt." Nach wie vor werden Schmerzen in vielen Fällen "nicht ausreichend behandelt". Jaksch betont: "Es geht nicht um schmerzfrei, aber um schmerzarm. Starke Schmerzen müssen nicht sein. Und da gibt es internationale Standards – etwa, dass eine bestimmte Schmerzintensität auf einer Skala nicht überschritten werden soll (siehe Grafik)."

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