HABIT: Mit allen Sinnen kommunizieren
Früher war Stefanie Kratzer auf die richtige Frage angewiesen: „Möchtest du einen Kakao trinken?“ Dann konnte die blinde, mehrfachbehinderte junge Frau durch Bewegungen „Ja“ oder „Nein“ signalisieren. „Natürlich war das frustrierend für sie, wenn das Falsche gefragt wurde“, erzählt ihre Betreuerin Marion Rakousky. Jetzt hört Stefanie Kratzer über ein spezielles Wiedergabegerät („Kommunikator“) in kurzen Abständen verschiedene Wörter: etwa „essen“, „trinken“, „Pause“. Drückt sie nach einem Wort einen an ihrem Rollstuhl befestigen Taster, kann sie in das jeweilige Thema tiefer einsteigen. Bei „trinken“ kommt als nächste Ebene „warme Getränke“ – „kalte Getränke“ und danach die Liste der Getränke. Die von ihr ausgewählten Wörter sieht Marion Rakousky auf einem kleinen Bildschirm: „Auf diese Weise kann sie ganze Sätzen formulieren, etwa ,Ich möchte jetzt eine Pause machen, auf einer Matratze liegen und die Andrea-Berg-DVD hören‘."
„Basale Stimulation“ heißt die Methode, die im Tageszentrum von HABIT (Haus der Barmherzigkeit Integrationsteam, siehe re.) in der Lobenhauerngasse in Wien-Hernals angewandt wird. „Das Ziel ist, schwer mehrfachbehinderten Menschen den eigenen Körper und die unmittelbare Umgebung erfahrbar zu machen und so Kommunikation zu ermöglichen“, sagt HABIT-Geschäftsführerin Gabriele Hetzmannseder. Am Sonntag feiert HABIT sein 10-Jahr-Jubiläum.
Sozialpädagogin Sandra Kleissner hält den Oberkörper von Christopher Vopava aufrecht. „Alleine kann er das nicht. Ich ermögliche ihm die Kompetenz des Sitzens. Die Sicht auf die Welt ist eine andere, wenn man sitzt statt liegt.“ An seinen Bewegungen merkt sie, wann er die Position verändern möchte.
In dem Tageszentrum werden 41 Menschen zwischen 18 und 58 Jahren von einem interdisziplinären Team (u. a. Sonderpädagog¬Innen, PflegerInnen und TherapeutInnen) betreut. Das Ziel ihrer engen Zusammenarbeit ist eine breite Persönlichkeitsentwicklung.
Kreativ
„Früher mussten sich die Klienten an das System anpassen, jetzt passt sich das System an die Klienten an“, sagt Zentrumsleiter Andreas Kauba. „Es gibt so wenig Vorgaben und Grenzen wie nur möglich. Für die Betreuer bedeutet das ein sehr kreatives, offenes Arbeiten.“
Paul Stejskal sitzt auf einer hölzernen Schlitztrommel, sein Betreuer Stefan Fleischhacker bringt sie zum Schwingen, die Vibrationen übertragen sich auf den Körper: „Dadurch wird Paul ruhiger, er bündelt seine Aufmerksamkeit. Das hilft ihm, seinen Körper und seine Gefühle wahrzunehmen. Er kann leichter mitteilen, was er möchte – das unterstützt unsere Kommunikation.“
Kauba: „Jeder Mensch kann kommunizieren – auch wenn er nicht sprechen kann. Ein ,Ja‘ etwa kann ein Laut, aber z. B. auch schnelleres Atmen sein. Jede Äußerung, jede Bewegung ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung. Diese Signale zu verstehen ist eine Herausforderung –, aber es ist möglich.“ Bis zu einem halben Jahr intensive Beobachtung ist dafür notwendig.
„Mehrfachbehinderte Menschen werden oft in ihren Kompetenzen und Möglichkeiten unterschätzt“, sagt Hetzmannseder. „Es gibt immer noch das Vorurteil: Die tun mir so leid, die leiden so. Aber dem ist nicht so. Das sind starke Persönlichkeiten. Leid entsteht durch äußere Umstände, wenn ihnen Grenzen für ihre Entwicklung gesetzt werden, wenn sie abgewertet werden und ihnen nichts zugetraut wird. Wenn ich hingegen versuche, mit ihnen zu kommunizieren, gebe ich ihnen Kompetenz und ermuntere sie, die Kommunikation noch zu verstärken.“
„Unsere Klienten haben das Recht, genauso wie alle anderen Menschen zu leben“ , betonen Hetzmanseder und Kauba. „Und dazu müssen wir alles tun, um ihre Laut-, Körper- und Gefühlssprache zu verstehen."
Info: Unterstützung für 260 Menschen
Einrichtungen In 14 Wohngemeinschaften und vier Basalen Tageszentren (alle integriert im Sozialen Wohnbau) in Wien und NÖ betreut das „Haus der Barmherzigkeit Integrationsteam“ (HABIT) 260 Menschen mit basalem (grundlegendem) Unterstützungsbedarf bei der Wahrnehmung von Körper und Umgebung.
Akzeptanz 77 Prozent können ausschließlich nonverbal (ohne Sprache) kommunizieren. Ziel ist, dass diese Menschen akzeptiert und als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden.
Nähere Infos: www.hausderbarmherzigkeit.at
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