Gewalt an Kindern: Der alltägliche Skandal

Jedes zehnte Kind ist Opfer sexueller Gewalt
Kindesmisshandlungen haben die Dimension einer Volkskrankheit, meint Psychiater Fegert.

Der Fall Luca ist fast zehn Jahre her. Und dennoch erinnert sich fast jeder an die unfassbare Geschichte des 17 Monate alte Buben, der misshandelt, sexuell missbraucht und am Ende qualvoll gestorben ist.

Solche Einzelschicksale berühren – "Prozentzahlen kann man dagegen nicht fühlen", sagt der deutsche Psychiater Jörg M. Fegert, der derzeit auf Österreichbesuch bei der Kinderschutzorganisation möwe ist. Dabei sind die Zahlen nach wie vor erschreckend hoch: Jedes zehnte Kind ist Opfer sexueller Gewalt, jedes fünfte wird geschlagen – damit ist nicht "nur" die "Watsche" gemeint. Und das, obwohl sich die Einstellung der Menschen geändert hat und sie Gewalt an Kindern nicht mehr als Kavaliersdelikt betrachten.

Nicht bewusst

"Diese Gewalt ist immer noch ein alltäglicher Skandal, dessen Dimension vielen nicht bewusst ist", sagt Fegert. Das Ausmaß der Gewalt mache ein Vergleich deutlich: "Sieben Prozent der Österreicher sind Diabetiker – das wird als Volkskrankheit eingestuft. Die Anzahl der Kinder, die unter Gewalt leiden, ist fast drei Mal so hoch."

Betroffen seien nicht nur Kinder aus der Unterschicht, wie Fegert betont: "Das haben wir bei einer wissenschaftlichen Studie unter werdenden Müttern herausgefunden, an der überproportional viele Akademiker teilgenommen haben. Da gaben 14 Prozent der Frauen an, bereits als Kind missbraucht worden zu sein."

Schwere Fälle

Die Lage der Kinder hat sich also in den vergangenen Jahren verbessert – gut ist sie aber noch lange nicht. In den Kinderschutzzentren und Kinderpsychiatrien sammeln sich mittlerweile nur noch die besonders schweren Fälle, auch weil es viele niederschwellige Angebote gibt, die Familien in Not helfen.

Hilfe ist auch deshalb weiterhin notwendig, weil Kinder im digitalen Zeitalter neuen Bedrohungen ausgesetzt sind: "In unseren Einrichtungen sind immer häufiger Jugendliche in Behandlung, die nach Bloßstellungen im Netz Suizidversuche unternommen haben – etwa, wenn Nacktbilder von der Ex-Freundin online gestellt werden", berichtet Fegert.

Sexueller Missbrauch und Gewalt durch Gleichaltrige wird ebenfalls zunehmend ein Thema: "Hier sollten wir ganz besonders in die betreuten Wohngemeinschaften schauen, wo es eine große Anzahl an traumatisierten Kindern gibt."

1,1 Milliarden Euro

Apropos Traumata. Der Psychiater hat sich angeschaut, was diese der Gesellschaft kosten – abgesehen vom individuellen Leid. Sein Ergebnis für Deutschland: Gesundheits- Jugendhilfe- oder Sozialkosten sowie entgangene Steuereinnahmen belaufen sich pro Jahr auf 11 Milliarden Euro. Auf Österreich umgelegt bedeutet das eine jährliche Belastung für das Budget von rund 1,1 Milliarden Euro.

Unterfinanziert

Was heißt das alles für die Politik? "Es braucht eine gesicherte Dauerfinanzierung von Einrichtungen wie der möwe", fordert Fegert. Denn immer noch muss der Verein jährlich um Subventionen ansuchen. Laut möwe-Geschäftsführerin Hedwig Wölfl wird rund ein Drittel des Budgets aus Spenden finanziert. Zudem brauche es mehr Geld für Forschungen und zur Entwicklung von Leitfäden und Materialien, z. B. für Opfer von Cybermobbing, sagt Wölfl .

"Wir können mit unseren Mitteln nur einem Teil der Kinder helfen. Deshalb benötigen wir die Hilfe von anderen, etwa Pädagogen, die entsprechend geschult werden müssten." Das Gleiche gelte für Mediziner: "Sie sind meist die ersten, die mit den Betroffenen in Kontakt kommen. Dennoch ist das Thema nicht Teil ihrer Ausbildung." Auf gesetzlicher Ebene hätte in Deutschland ein Beauftragter gegen sexuellen Missbrauch viel weitergebracht, berichtet Fegert. Der wurde im Zuge der Aufarbeitung der Heimskandale installiert.

Zahlen, Daten, Fakten: Europaweit sind 10 Prozent der Kinder (7 Prozent der Buben und 13 Prozent der Mädchen) Opfer von sexueller Gewalt. 20 Prozent erleben körperliche Gewalt. Ähnliche Zahlen gelten für Österreich. Mehr als 3 Prozent der Erwachsenen berichten von Missbrauch in öffentlichen Institutionen wie Kinderwohn- gemeinschaften oder Schulen.

UNO-Ziel: In der „Road to dignity by 2030“ – einer Agenda für nachhaltige Entwicklung – haben sich UN-Organisationen wie UNICEF oder WHO zum Ziel gesetzt, alle Formen der Ausbeutung und Gewalt an Kindern bis zum Jahr 2030 zu beenden.

Anlaufstellen: Telefonische Beratung für Kinder und Jugendliche bieten Rat auf Draht Tel. 147, www.die-moewe.at 0800 80 80 88 sowie die Kinder- und Jugendanwaltschaft unter 0800 240 264 (24-Stunden-Hotline)

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