Weltweit erste ALS-Patientin kehrt ins Leben zurück

Frau im Rollstuhl
Stephen Hawkings Krankheit: Die Ursache für die Erkrankung ist bis heute nicht bekannt, eine heilende Therapie war bisher nicht möglich.

Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet von der vermutlich weltweit ersten Patienten in der Geschichte von ALS, bei der die zunehmende Lähmung der Muskulatur gestoppt wurde. Laut dem behandelnden US-Arzt grenzt der Fall an einem medizinischen Wunder.

Bei der Amyotrophen Lateralsklerose kommt es zu einer fortschreitenden Lähmung der Muskulatur durch Absterben von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark, mit denen die Muskulatur gesteuert wird. Die Erkrankung wurde im Jahre 1874 erstmals von dem Pariser Neurologen Henry Charcot beschrieben. Nur bei einem von 100.000 Menschen tritt diese neurologische Erkrankung auf: Weltweite Aufmerksamkeit erhielt die seltene Krankheit durch den verstorbenen britischen Wissenschafter Stephen Hawking.

Die Ursache für die Erkrankung ist bis heute nicht restlos geklärt, eine heilende Therapie war bisher nicht möglich.

Jetzt wurde der Fall der Deutschen Anna K. bekannt, die mit einem nicht zugelassenen US-Medikament behandelt wurde. Bei der heute 18-Jährigen wurde im Oktober 2020 eine besonders aggressive Form von ALS diagonstiziert, die durch eine Mutation im sogenannten FUS-Gen ausgelöst wurde.

Rund zehn Prozent der Betroffenen in Deutschland weisen eine Gen-Mutation auf, davon nur vier Prozent die spezielle Mutation des FUS-Gens wie Anna K. Die meisten Betroffenen sterben nach kaum mehr als drei Jahren an Atemversagen oder einer tödlich verlaufenden Lungenentzündung.

US-Studie startet

Der Neurologe Neil Shneider leitet das ALS-Center an der Columbia University in New York: Er startete mit seiner Studie, als die 25-jährige Jaci Hermstad aus Iowa an der seltenen FUS-ALS erkrankte, nachdem ihre Zwillingsschwester daran gestorben war.

Die kalifornische Pharmafirma Ionis hatte vielversprechende Tests mit dem Präparat ION363 durchgeführt: Shneider erhielt von der US-Arzneimittelbehörde (FDA) die Ausnahmegenehmigung, Hermstad mit dem Mittel zu behandeln. Doch im Mai 2020 starb Hermstad aufgrund von Komplikationen, die eine Lungenentzündung verursacht hatte, wie der Spiegel berichtet.

Bei anschließenden Untersuchungen zeigte sich allerdings, dass typische, toxische Moleküle im Nervengewebe von Hermstad so gut wie nicht mehr nachweisbar waren. Das Medikament dürfte also die Krankheit gestoppt haben, nur leider nicht mehr rechtzeitig. Der Mediziner erweiterte die Studie mit dem Medikament unter dem neuen Namen JaciFUSen - in diesem Augenblick meldete sich die Familie der schwer kranken Anna K. aus Deutschland.

Über einen befreundeten Genetiker, der in den USA arbeitete, hatte die deutsche Familie von der New Yorker Studie mit einer kleinen Probandengruppe, die die extrem seltene FUS-Gen-Mutation aufweisen, erfahren. Eigentlich gilt ALS als Krankheit, die vor allem über 50-Jährige betrifft. Doch die auf FUS-Gen-Mutationen basierende Form trifft auffällig oft junge Menschen.

Behandlung in den USA

Von Dezemer 2020 bis Februar 2021 wurden der jungen Frau vier Dosen des weltweit nicht zugelassen Medikaments JaciFUSen in den USA gespritzt. Eine Behandlung in Deutschland mit dem Medikament ist von deutschen Behörden abgelehnt worden.

Trotzdem verschlechterte sich ihr Zustand rapide: Es folgte ein Kollaps infolge einer Lungenentzündung - Anna K. musst im August 2021 über einen Luftröhrenschnitt künstlich beatmet werden. Die Mutter befürchtete bereits, dass sich die Tochter im Locked-in befindet – völlige Bewegungslosigkeit. Für ALS-Patienten bedeutete dieser Zustand bisher, dass ab diesem Zeitpunkt keine Rückkehr zur selbstständigen Atmung mehr möglich ist.

Für zehn Tage wurde die junge Frau in ein künstliches Koma versetzt.

Doch nach diesem Tiefpunkt ging es bergauf: Die junge Frau konnte wieder selbstständig atmen - anfangs eine Minute - und aufstehen. Zu Silvester 2021 atmete Anna K. bereits eine Stunde ohne Beatmungsgerät. Bald konnte sie wieder selbstständig aufstehen und gehen. In ihr erstarrtes Gesicht kehrte die Mimik zurück, so der Spiegel.

Ihr Fall sei "völlig außergewöhnlich", meint Shneider zu dem deutschen Magazin. "Sollten auch andere Patienten ähnlich auf den Wirkstoff JaciFUSen reagieren, wäre das ein Durchbruch in der ALS-Therapie", sagt der Wissenschafter. Wie der Fall von Anna K. zeigt, lässt sich die Muskel­lähmung zwar aufhalten, doch einmal zerstörte Motoneuronen lassen sich nicht wieder­herstellen.

Mittlerweile kann die junge Frau den größten Teil des Tages selbstständig atmen und ohne Hilfe mehrere Kilometer am Stück gehen.

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