Übergewicht: "Viele wissen nicht, dass man mit dem Kind auch Ballspielen kann"

Ein übergewichtiges Kind auf einem Turngerät.
Eines von zehn Kindern weltweit lebt mit Fettleibigkeit. Damit sind mehr Heranwachsende von Übergewicht betroffen als von Unterernährung. Was brauchen betroffene Kinder und ihre Familien?

"Wenn wir über Mangelernährung sprechen, sprechen wir nicht mehr nur von untergewichtigen Kindern" – mit diesen Worten bringt UNICEF-Direktorin Catherine Russell das Kernergebnis des neuen Ernährungsberichts des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen auf den Punkt.

Erstmals sind demnach weltweit mehr Kinder von Übergewicht als von Unterernährung betroffen. Seit dem Jahr 2000 hat sich der weltweite Anteil der übergewichtigen Kinder im Alter von fünf bis 19 Jahren von elf auf 20 Prozent erhöht. Österreich liegt mit einem Anteil von 28 Prozent bei den übergewichtigen Kindern rund acht Prozent über dem globalen Schnitt (weitere Zahlen siehe Infobox weiter unten).

Im KURIER-Interview schildert Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der MedUni Wien, wo die Ursachen der Entwicklung liegen und wie man Familien richtig unterstützt.

KURIER: War die im Bericht beschriebene Sachlage zu erwarten?

Susanne Greber-Platzer: Das kann man klar mit Ja beantworten. Bis auf wenige Regionen auf der Welt haben fast alle Länder inzwischen ein Überangebot an ungesunder Ernährung. 

Die Wurzel des Problems?

Die Wurzel liegt darin, dass fett- und zuckerreiche Lebensmittel und Getränke überall, unmittelbar und ganz einfach greifbar sind – quer durch alle Gesellschaftsschichten. Dieses Überangebot hat sich bis ins Kinderprodukt-Sortiment durchgeschlagen. Zuckerhaltige Tees und Säfte sind zum Beispiel in großer Vielfalt vorhanden. Der Konsum führt dazu, dass schon Kinder ihr Hunger-Sättigungs-Gefühl nicht mehr gut regulieren können und Verlangen nach Süßem oder fetthaltigem Essen entwickeln.

Was sind die Folgen?

Wenn dauerhaft zu viel Energie zugeführt und zu wenig abgebaut wird, lagert der Körper immer mehr Fett ein. Die Folge ist Adipositas, eine Erkrankung mit einem breiten Spektrum an gesundheitlichen Folgen: Wirbelsäulenveränderungen, Fehlstellungen der Beine und Plattfüße, Dehnungsstreifen der Haut. Von großer Krankheitsrelevanz sind hormonelle, metabolische und kardiovaskuläre Störungen, die zu Leberverfettung oder Bluthochdruck führen können. Bei Burschen kann es zur Pseudogynäkomastie, bei jungen Mädchen zu Regelstörungen oder auch Fruchtbarkeitsproblemen kommen. Das Risiko für Insulinresistenzen steigt, die in Typ-2-Diabetes münden können. Folgen einer massiven Fetteinlagerung sind auch Atemstörungen im Schlaf. Besonders problematisch ist, dass sich Gewichtsprobleme ins Erwachsenenalter fortsetzen.

Welchen Einfluss haben die Gene? 

Sie spielen sicher eine Rolle. Aber Veranlagungen sind individuell beeinflussbar. Dass ausschließlich ein Gendefekt das Übergewicht bedingt, gilt für ganz wenige Betroffene. 

Hat auch die Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft Einfluss?

Wenn man in der Schwangerschaft adipös ist als Mutter bzw. einen Schwangerschaftsdiabetes entwickelt, sind die Kinder meist von Geburt an schwerer – und haben später ein erhöhtes Risiko Übergewicht bzw. Adipositas zu entwickeln.

Gibt es ein Bewusstsein dafür, dass Übergewicht auch die psychische Gesundheit beeinträchtigt?

Psychische Probleme können Auslöser und Folge von Übergewicht oder Adipositas sein. Psychische Belastungen und Störungen in der Stressbewältigung führen oft zu Rückzug – um der Situation zu entkommen, ist Essen eben eine Möglichkeit. Bei Fettleibigkeit kann wiederum das Körperschema zur Belastung werden, aber auch zu Gefühlen von Scham sowie Mobbing-Erfahrungen. All das kann ebenfalls zur Isolation führen. Es entsteht ein Teufelskreis. 

Wie kann der durchbrochen werden?

Indem man multidisziplinär, also auf vielen Ebenen, eingreift. Die Kinder brauchen zuallererst psychologische Unterstützung, sie brauchen eine Stabilisierung ihrer psychischen Belastung. Aufbauend sind weitere Maßnahmen, wie Ernährung und Sport. Das Bewusstsein für das Problem und die Veränderung kann niemals allein am Kind hängen.

Für nachhaltige Erfolge muss die Familie einbezogen werden?

Unbedingt, sonst sind nachhaltige Erfolge kaum möglich. Die Familien haben oft Migrationshintergrund, ein geringes Einkommen, existenzielle Ängste, es bestehen häufig enge Wohnverhältnisse oder psychische Probleme. Oft leben die Familien in sogenannten obesen Umgebungen ("obese" ist Englisch für "fettleibig", Anm.), die keine Möglichkeit zu Aktivitäten im Freien oder Grünen bieten, wo man aber in unmittelbarer Nähe Fast Food bekommt. Eltern brauchen unbedingt Unterstützung und Beratung, beispielsweise wenn es darum geht, wie man das Abnehmen thematisiert, ohne zu viel Druck aufzubauen und Essen wie auch Bewegung zu einer täglichen Routine zu machen. Oft herrscht allgemeine große Überforderung im Alltag, weil Kinder mit Adipositas oft energisch reagieren, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen – ungesundes Essen. Da allein herauszukommen ist fast unmöglich.

Braucht es mehr Beratungsangebote?

Zu befürworten wäre, wenn es viel mehr Familientherapien geben würde, oder Kochkurse und Bewegungsgruppen, wo sich Familien austauschen können. Wenn man lernt, wie ein gesunder Tagesablauf aussieht, wie man einen gesunden Lebensstil umsetzten kann – wie man sich mit seinem Kind beschäftigt. Viele wissen nicht, dass man mit dem Kind auch mal Ballspielen kann. Eltern und ihre Kinder sollten sich gut angeleitet und unterstützt fühlen, um das Gefühl einer gesunden, glücklichen Familie erleben zu können. Bei Jugendlichen brauchen wir vor allem fördernde Peers und Gruppenaktivitäten im multidisziplinären Kontext, sie dürfen auf keinen Fall Außenseiter werden. 

Kürzlich hat eine britische Studie ergeben, dass ein Drittel der Kinder nach der Schule nicht an der frischen Luft herumtobt. 

Tägliche Bewegung ist enorm wichtig. Das beginnt damit, dass man nicht mit dem Auto oder den Öffis in die Schule fährt, sondern möglichst Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegt. Es sollte die tägliche Bewegung eingeplant werden. Wir empfehlen allen Kindern, an Sportprogrammen teilzunehmen. 

Gibt es österreichweit genug Programme, wo sich übergewichtige Kinder angenommen fühlen?

Es gibt über die Österreichische Gesundheitskasse für das Pflichtschulalter Programme, wo man während dem gesamten Schuljahr begleitet und gefördert wird – ärztlich dialogisch, psychologisch und sportmäßig. Zum Beispiel "Easy kids" in einigen Bundesländern oder "Enorm in Form" in Wien. Wo wir einen Mangel haben, ist nach dem Pflichtschulalter, hier gibt es kaum etwas, abgesehen von einer mehrwöchigen Rehabilitation in spezialisierten Einrichtungen.

Die Vorbildrolle der Eltern wird stets betont. Kann kindliches Übergewicht auch in normalgewichtigen Familien Thema sein?

Das kann sein, ja. Aber man muss ehrlich sagen, dass es seltener vorkommt. Hier spielen oft die psychische Belastung, fehlende Stressbewältigung oder auch zu großer Druck hinsichtlich Erwartungen und Erfolg aus der Familie ein Rolle.

Immer wieder wird über Sinn und Unsinn einer Zuckersteuer oder Werbebeschränkungen debattiert. Was halten Sie davon?

Was als erstes aufhören sollte, ist die Werbung für süße und ungesunde Lebensmittel für Kinder. Die Kinder werden heutzutage vorrangig über Social Media mit solchen Informationen überschwemmt. Die Süßigkeiten sollten außerdem in den Geschäften nicht vor den Kassen platziert sein, das ist wirklich absurd. Im Umgang mit Kindern ist Zwang zwecklos. Wenn etwa nur rohes Gemüse im Kindergarten angeboten wird, das aber die Kinder nicht essen, hat man nichts gewonnen. Man braucht spielerische Strategien – ein Stück Banane, ein Stück Gurke zum Beispiel, oder schrittweise immer weniger gesüßter Saft –, um etwas zu erreichen. 

Aktuell wird viel über Abnehmspritzen diskutiert. Manche Präparate können ab zwölf Jahren bei Adipositas verordnet werden. 

Das ist eine Entwicklung, die wir in der Kinder- und Jugendheilkunde als gewissen Erfolg sehen. Wenn man alles konsequent versucht hat, können die Präparate eine ergänzende, stützende Möglichkeit sein. Ohne dauerhafte Lebensstilveränderung, überwiegen aber die Nachteile.

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