Abnehmspritzen: Wundermittel oder Risiko?

Für wenn sind Abnehmspritzen gedacht, ab wann beginnt krankhaftes Übergewicht (Adipositas) überhaupt? Das war eine der ersten Fragen, die Dr. Florian Kiefer, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der MedUni Wien, beim KURIER-Gesundheitstalk beantwortete: "Die Diagnose wurde bisher anhand des Body-Mass-Index (BMI) gestellt – einer simplen Formel, bei der das Körpergewicht durch das Quadrat der Körpergröße geteilt wird. Das Normalgewicht liegt demnach zwischen einem BMI von 18,5 und 24,9, von Übergewicht spricht man ab 25. Adipositas beginnt ab einem Wert von 30." Kiefer, der auch Präsident der Österreichischen Adipositas-Gesellschaft ist, betonte aber, dass dieser Wert nicht unproblematisch sei, weil er nichts über die Körperzusammensetzung aussage. "Kraftsportler können beispielsweise einen hohen BMI haben, ohne ein erhöhtes gesundheitliches Risiko zu tragen." Dennoch sei der BMI aktuell der Richtwert: "Ab einem Wert von 30 könne eine Behandlung durch Abnehmspritzen erwogen werden, in manchen Fällen – etwa bei Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, hohen Blutfetten oder Fettleber – bereits ab einem BMI von 27", so der Mediziner.
In Österreich sind 3,5 Millionen Menschen übergewichtig oder adipös - aber warum? Diätologin Elisabeth Saathen sieht einen wesentlichen Grund in unserer modernen Lebensweise: "Bewegungsmangel, lange Arbeitszeiten, wenig Zeit für selbstgekochte Mahlzeiten und das omnipräsente Angebot an hochkalorischen Lebensmitteln erschweren es vielen, gesunde Entscheidungen zu treffen." Kiefer ergänzte, dass genetische Faktoren ebenfalls eine große Rolle spielen. „Jedes Jahr werden neue Gene entdeckt, die zur Entstehung von Adipositas beitragen." Problematisch sei darüber hinaus, dass das Risiko bereits im Mutterleib beginnt: "Kinder adipöser Mütter haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Übergewicht zu entwickeln."
Ohne Lebensstiländerung kein langfristiger Erfolg
Die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie zur Gewichtsreduktion variiert stark. „Es gibt gute Responder, aber auch Non-Responder“, erklärte Kiefer. Besonders bei Letzteren liegt das Problem häufig darin, dass notwendige Anpassungen des Lebensstils nicht konsequent umgesetzt wurden. Entscheidend ist: Die Medikamente sind ausschließlich in Kombination mit Lebensstilmaßnahmen zugelassen. „Sie dienen als Unterstützung, um Heißhungerattacken zu reduzieren und das Essverhalten zu kontrollieren“, so Kiefer. Der Therapieerfolg hängt maßgeblich davon ab, wie engagiert die Patienten an der Veränderung ihrer Gewohnheiten arbeiten.
Saathen betonte die langfristige Perspektive: „Der große Vorteil einer begleitenden Ernährungsumstellung besteht darin, dass man gemeinsam Strategien entwickelt, um den Gewichtsverlust auch nach dem Absetzen des Medikaments zu halten.“ Denn die Wirkung der Spritze endet mit der Einnahme – und ohne nachhaltige Verhaltensänderungen droht der gefürchtete Jo-Jo-Effekt.
Eine Dynamik, die Menschen mit Adipositas gut kennen. Sie führt zu kontinuierlicher Gewichtszunahme und an den Punkt, wo "nichts mehr geht", Betroffene treten auf der Stelle. Kiefer verwies in diesem Zusammenhang auf die „Set-Point-Theorie“, die besagt, dass der Körper nach einer Gewichtsabnahme oft versucht, das zuvor erreichte Höchstgewicht wiederherzustellen. Das Gehirn signalisiert verstärkten Appetit, die Sättigungssignale werden abgeschwächt und der Energieverbrauch sinkt. „Über Jahrtausende war es ein Überlebensvorteil, Energie gut speichern zu können“, erklärte Kiefer. „Doch in unserer heutigen Zeit, in der Nahrung jederzeit verfügbar ist, wird dieser Mechanismus zum Problem.“
Wie sich das aus Sicht einer Betroffenen anfühlt, erzählte Vicky, die mit Hilfe der Abnehmspritze innerhalb von drei Monaten 20 Kg verloren hat: "Ich hatte immer wieder mit meinem Gewicht zu kämpfen, besonders schlimm wurde es in der Corona-Pandemie. Plötzlich war ich an dem Punkt, an dem ich nicht mehr zurückkonnte." Sie konnte nicht mehr bis zum Bus laufen und schwitzte im Winter bei Minusgraden. Bei ihr spielt auch der psychische Aspekt eine große Rolle. „Ich war schon als Kind übergewichtig, in der dritten Volksschule-Klasse war ich das erste Mal bei einem Diätologen“, erzählte sie. Ein Teufelskreis habe sich entwickelt: „Meine schlechte Psyche hat zu Übergewicht geführt, das Übergewicht hat meine Psyche noch schlechter gemacht.“
Psychologe Markus Fahrnberger betonte, dass sich hier oft eine Abwärtsspirale entwickle: "Viele Menschen nehmen die schleichenden Einschränkungen in ihrem Alltag zunächst gar nicht bewusst wahr. Hinzu kommt der gesellschaftliche Druck – doch die oft gehörte Aussage ,Dann iss halt weniger!' greift viel zu kurz." Essen sei für viele eine Bewältigungsstrategie, die tief in Kindheitserfahrungen verwurzelt ist.
Die Entscheidung
Irgendwann kam der Punkt, an dem sich Vicky für die Abnehmspritze entschied: „Dabei ging es weniger darum, die Spritze zu nehmen, sondern abzunehmen." Nach vielen erfolglosen Versuchen habe sie nach einem Hilfsmittel gesucht, das sie unterstützt. Die Spritze sei für sie kein Wundermittel, aber eine Hoffnung gewesen: „Sie hat mir geholfen, auf dem Weg zu bleiben.“
Kiefer erklärte auch, wie diese Medikamente genau wirken: „Ursprünglich wurden die Wirkstoffe zur Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt.“ Die blutzuckersenkende Wirkung ist dabei vom aktuellen Blutzuckerspiegel abhängig. Ist der Zuckerwert erhöht, trägt das Medikament dazu bei, ihn zu senken. Die gute Nachricht: "Eine Unterzuckerung bei Menschen ohne Diabetes ist nicht zu befürchten. Neben der Freisetzung von Insulin in der Bauchspeicheldrüse, wirkt die Spritze auch im Zentralnervensystem, wo es zu einer Steigerung der Sättigung bzw. zu einer Hemmung des Appetits kommt."
Bekannte Präparate sind Liraglutid (Saxenda), Semaglutid (Ozempic bzw. Wegovy) und das neueste Medikament Tirzepatid (Mounjaro). Entscheidend sei, dass die Medikamente nicht den Energieverbrauch erhöhen – Bewegung bleibt also weiterhin essenziell. Die Anwendung beginnt mit einer niedrigen Dosis, die langsam gesteigert wird, um Nebenwirkungen zu minimieren. Kiefer betonte allerdings, dass die Reaktion auf die Therapie individuell unterschiedlich ist. Während manche gut darauf ansprechen, gibt es auch sogenannte „Non-Responder“. Was oft daran liegt, dass die notwendigen Lebensstiländerungen nicht umgesetzt werden. „Die Medikamente sind eine Unterstützung – aber sie ersetzen keine Ernährungsumstellung und Bewegung“, so der Mediziner.
Eine Bindung fürs Leben?
Es stellte sich die Frage, ob die Spritze ein lebenslanger Begleiter bleiben muss und was passiert, wenn sie abgesetzt wird. „Adipositas ist eine chronische Erkrankung“, erklärte Kiefer. „Setzt man das Medikament ab, steigt das Gewicht meist wieder an. Das ist wie bei Bluthochdruck, der auch zurückkehrt wenn die Medikamente abgesetzt werden.“ Manche Patienten wollen die Spritze dennoch nicht dauerhaft nehmen. In diesen Fällen sei es wichtig, die Dosis schrittweise zu reduzieren und Strategien zu entwickeln, um das Gewicht zu halten.
Abnehmspritzen sind auch nicht frei von Nebenwirkungen: Sehr häufig kommt Übelkeit vor, weiters Verdauungsprobleme und Müdigkeit. Vicky berichtete von latenter Übelkeit, und Appetitverlust – für sie Fluch und Segen gleichzeitig. Hier sei es besonders wichtig, die Ernährung anzupassen. So habe sie gemerkt, dass sie nicht immer alles verträgt, was auch mit dem Zeitpunkt der Verabreichung der Spritze zusammenhängen könne. Was sie dran bleiben lässt, sind die Erfolgserlebnisse: Ich kann mich besser bewegen, aber mein größter Erfolg war, dass ich im Flugzeug keinen Gurt-Extender mehr gebraucht habe.“
Kosten als Herausforderung
Eine der größten Herausforderungen ist derzeit die Erstattung durch die Krankenkassen. „Für Adipositas gibt es noch keine generelle Kostenübernahme“, erläuterte Kiefer. In Österreich müssen die meisten Patienten die Therapie mit Abnehmmedikamenten selbst zahlen – zu rechnen ist mit Kosten zwischen 200 und 500 Euro pro Monat. Eine Ausnahme gibt es für Jugendliche ab 12 Jahren in speziellen Programmen und für Patienten, die sich auf eine bariatrische Operation vorbereiten.
Letztlich war sich das Podium einig: Die Abnehmspritze kann eine wertvolle Hilfe sein – aber nur als Teil eines umfassenden, langfristigen Konzepts. Der Schlüssel liegt in der Kombination aus medikamentöser Unterstützung, Ernährungsanpassung, Bewegung und psychologischer Begleitung. Nur so kann der Gewichtsverlust nachhaltig gelingen.
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