Transgender-Debatte: "Wir verteilen Pubertätsblocker ja nicht wie Zuckerl"

Grafische Darstellung eines Mädchens und einer Hand mit Tabletten.
Eine Kinderärztin löste in England eine Diskussion um die Behandlung von Jugendlichen aus, die ihr biologisches Geschlecht ablehnen. Der KURIER fragte bei Experten zur Lage in Österreich nach.

Das Gutachten einer britischen Kinderärztin sorgt für Aufregung: Es stellt die bisherige Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie in England in Frage. Diese Diagnose wird gestellt, wenn die Geschlechtsidentität einer Person nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt und dies zu erheblicher psychischer Belastung führt. Viele spüren einen starken inneren Konflikt, ekeln sich vor ihrem Körper, es kann zu Depressionen und Angstzuständen, im schlimmsten Fall zu Selbstverletzungen und Suizidversuchen kommen. 

Die Medizinerin Hilary Cass zweifelt in ihrem Bericht die Verschreibung von Pubertätsblockern und Geschlechtshormonen für Minderjährige an, Tausende Jugendliche würden vom englischen Gesundheitssystem "im Stich gelassen", es bräuchte mehr Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen – der KURIER berichtete. Der nationale Gesundheitsdienst NHS schränkte auf Basis von Cass‘ Bericht die Verabreichung von Pubertätsblockern ein. Diese Medikamente stoppen die Pubertät und sollen Jugendlichen Zeit verschaffen. 

Sie verhindern, dass in den Hoden Testosteron oder in den Eierstöcken Östrogen produziert wird, Stimmbruch oder das Wachstum der Brüste bleiben aus – solange die Medikamente genommen werden. Ihre Wirkung ist reversibel, sobald sie abgesetzt werden. Ursprünglich wurden die Blocker entwickelt, um Kinder, die zu früh in die Pubertät kommen, zu behandeln. Seit gut 20 Jahren werden sie off-label auch für Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie eingesetzt.

In Österreich bereits "streng geregelt"

In England können die Mittel nun nur noch im Rahmen klinischer Studien verabreicht werden – es ist damit das fünfte europäische Land, das den Gebrauch von Pubertätsblockern restriktiver gestaltet. Zuvor empfahl 2020 das finnische Gesundheitsamt Psychotherapie als primäre Behandlung für Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie, 2022 beschränkte Schweden Hormonbehandlungen von Jugendlichen auf "Ausnahmefälle", 2023 folgte Norwegen, wo Hormontherapien seither nur mehr in klinischen Studien verschrieben werden dürfen. In Dänemark werden entsprechende Leitlinien derzeit überarbeitet. 

In Österreich sei die Verabreichung im Vergleich zu anderen Ländern bereits streng geregelt, sagt Stefan Riedl, Leiter der Ambulanz für Varianten der Geschlechtsentwicklung am AKH Wien. Riedl war an der Ausarbeitung der seit 2017 geltenden Empfehlungen für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie des Gesundheitsministeriums beteiligt. "Während in manchen Ländern wie in den USA oft nur eine Fachperson den Einsatz von Medikamenten bewilligt, braucht es hierzulande eine psychologische, psychotherapeutische und psychiatrische Diagnostik", betont Riedl. So soll sichergestellt werden, dass nur jene die Medikamente erhalten, bei denen das Anliegen einer Angleichung des biologischen Geschlechts an ihr Wunschgeschlecht "voraussichtlich unabänderlich" ist.

"Gut begleiteter Prozess mit ausreichend Zeit"

"Man fängt nicht einfach mit Pubertätsblockern an und schaut, wie es sich entwickelt, sondern es ist ein gut begleiteter Prozess mit ausreichend Zeit. Manche Teenager, die ursprünglich mit diesem Wunsch kommen, lassen ihn am Weg dorthin wieder fallen", erzählt Riedl. Dass es eine Zeit dauert, bis Jugendliche die Blocker erhalten, habe auch den Zweck, dass sie sich mit professioneller Unterstützung – auch auf Seiten der Eltern – klarer werden, ob dies für sie der richtige Weg ist.

Genaue Zahlen, wie viele Jugendliche in Österreich Pubertätsblocker erhalten – die meisten sind dann 15 oder 16 Jahre alt –, oder wie viele von einer Geschlechtsdysphorie betroffen sind, gibt es nicht. In internationalen Studien liegt der Anteil von unter 18-Jährigen mit Geschlechtsdysphorie bei 0,5 bis 0,8 Prozent. Riedl beobachtete bis 2019 einen deutlichen Anstieg der Erstvorstellungen, seither kommen jährlich rund 50 Jugendliche zum ersten Mal in seine Ambulanz. "Was sich gesellschaftlich abzeichnet ist, dass die Vielfalt und die Abstufungen hinsichtlich der Geschlechter mehr werden. Und es kann auch sein, dass man sich innerhalb einer Gruppe von Gleichaltrigen vorübergehend als gegengeschlechtlich identifiziert. Von dort bis zu einer Hormontherapie ist aber ein weiter Weg und unsere Aufgabe ist, zu unterscheiden, ob jemand so empfindet, weil er wo dazugehören möchte, oder ob es sich um etwas handelt, das schon lange besteht", sagt Riedl. 

Großer Teil möchte keine medizinischen Maßnahmen

Auch Johannes Wahala, Psychotherapeut und Leiter der Beratungsstelle Courage, betont, dass nicht alle Jugendlichen, die sich als transgender erleben, tatsächlich eine körperliche Transition, also eine Angleichung an das Wunschgeschlecht, machen möchten. "Der weit größere Teil möchte im individuellen Identitätsgeschlecht anerkannt werden, mit dem Wunschvornamen in der Schule und in der Familie akzeptiert werden, aber keine medizinischen Maßnahmen. Jene, bei denen aber eine Geschlechtsdysphorie laut Diagnosekatalog ICD-11 vorliegt, haben einen hohen Leidensdruck, der signifikant höher würde, wenn sie keine Behandlung erhalten", sagt Wahala. 

Studien und die Praxis würden zeigen, dass sich Betroffene häufig sozial zurückziehen und massiven psychischen Spannungen ausgesetzt sind. Wahala: "Es gibt klare Kriterien, um einzuschätzen, wann eine Geschlechtsdysphorie wirklich stabil und persistent ist, auch unter Einbeziehung der Eltern. Wir verteilen Pubertätsblocker ja nicht wie Zuckerl, sondern wissen um unsere Verantwortung." Gäbe es die Medikamente nicht, hätte dies einen Anstieg der Selbstverletzungs- und Suizidraten zur Folge, meint Wahala, da die Jugendlichen mit körperlichen Veränderungen konfrontiert sind, die ihrer individuell erlebten Geschlechtsidentität widersprechen.

Einen Transgender-Trend unter Jugendlichen sieht Wahala nicht. "Häufig wird transgender vermischt mit der Tatsache, dass die Jugend heute Geschlechtsrollenstereotype deutlich in Frage stellt. Jugendliche und junge Erwachsene leben uns vor, dass Geschlecht mehr ist als Mann- und Frausein, sondern ein Kontinuum zwischen diesen Polen. Das sind auch neue Herausforderungen für die Jugend, aber ich sehe keinen Hype hinsichtlich der Geschlechtsdysphorie", sagt Wahala. 

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