Sexologin Roidinger: „Guter Sex ist kein Malen nach Zahlen“

Ein Leben lang hat sie sich damit beschäftigt, Männer besser zu verstehen, schreibt Beatrix Roidinger, Sexologin und Gründerin einer Männercoaching-Plattform, in ihrem neuen Buch „Best Lover“. Im KURIER-Interview spricht sie über Erektionsprobleme, Orgasmushemmung und Pornosucht – und wie Männer zu einer gesunden Sexualität finden können.
KURIER: Mit männlicher Sexualität wird meist reibungsloses Funktionieren assoziiert – ein Missverständnis?
Beatrix Roidinger: Die gängige Vorstellung, dass Männer sexuell immer bereit sind und keine Probleme haben, ist ein Trugschluss. Es gibt immer mehr Männer, die in diesem Bereich unsicher sind und Probleme haben. Sie leiden im Stillen, oft über Jahre hinweg. Scham, Angst und fehlendes Wissen drängen sie in einen Rückzug, anstatt sich Hilfe zu holen.

Das gängige Bild von Männlichkeit schadet offenbar sehr.
Wenn wir Männer fragen, was männlich sein für sie bedeutet, dann kommen nach wie vor fast zu 100 Prozent Antworten wie „stark sein“, „alles im Griff haben“, „keine Gefühle zeigen. Die Idee dieser Männlichkeit – aktiv, dominant und sexuell stets einsatzfähig – beeinflusst das Selbstbild. Die Qualität des Sex wird abhängig von der Leistungsfähigkeit des Penis, den viele Männer wie ein Werkzeug sehen. Manche müssen erst lernen, dass Sex ganzheitlicher zu verstehen ist und es eine Verbindung der emotionalen, psychischen und physischen Ebene geben muss. Wenige denken nach, was ihnen guttut, was sie wollen und wer sie als sexuelles Wesen sein möchten. Wir ermutigen daher, sich mit der gesamten Bandbreite an Gefühlen auseinanderzusetzen und sie zuzulassen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke und Selbstbewusstsein.
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Stehen Männer in Bezug auf ihre sexuelle Gesundheit unter Druck?
Ja, das traditionelle Bild des männlichen Sexualverhaltens setzt Männer erheblich unter Druck. Die Idee, dem Bild des „idealen“ Mannes zu entsprechen, führt oft zu sexuellen Problemen. Viele befinden sich in einem ständigen Zustand des Vergleichs und der Selbstentwertung, was die Freude und Spontaneität, die mit einer gesunden Sexualität einhergehen sollten, stark beeinträchtigt.
Der Buchtitel klingt allerdings etwas leistungsorientiert…
Das ist absichtlich provokant, um zum Nachdenken anzuregen. Er suggeriert, dass es einen besten Liebhaber gibt. Es geht allerdings darum, für sich selbst der beste Liebhaber zu sein, aber nicht der Leistung oder des Erfüllens von Erwartungen, sondern der Entdeckung und Erschließung der eigenen, authentischen Sexualität wegen.
Welche Rolle spielen Pornos oder Social Media?
Eine große, Männer sehen sich mit zahlreichen Vergleichen und Erwartungen konfrontiert. Sie messen sich oft an überzogenen und unrealistischen Darstellungen und haben ein eingeschränktes Bild, was und wie Sexualität zu sein muss.
Wie lässt sich das ändern?
Männer müssen sich von stereotypen Narrativen befreien und eine individuellere, authentischere Sexualität entwickeln. Guter Sex ist nicht an eine starre Vorlage gebunden, es ist kein Malen nach Zahlen, sondern ist das, was sich für alle Beteiligten erfüllend anfühlt.
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Dazu gehört wohl auch, das Mindset zu transformieren – samt Erwartungen und Idealen…
Die klassischen Rollen von „aktiv“, also männlich und „passiv“, also weiblich, sind nicht in Stein gemeißelt. Vielleicht tut es dem Mann einmal gut, in der hingebenden, weniger aktiven Rolle zu sein. Das fällt vielen schwer. Sie haben das Gefühl, das Geschehen immer dominieren zu müssen. Das erzeugt Stress, er ist der Feind einer entspannten Sexualität.
Welche Probleme begegnen Ihnen im Männercoaching am häufigsten, was unterscheidet sie von Frauen?
Männer haben eigene, spezifische Probleme in Bezug auf die Sexualität, die sich zum Teil von den Herausforderungen unterscheiden, mit denen Frauen konfrontiert sind. So gibt es kaum eine Frau, die mit einem vorzeitigen Orgasmus zu kämpfen hat – ein Thema, das nicht nur junge Männer betrifft und sich auch negativ auf die Paarsexualität wirkt. Ebenso gibt es weitaus weniger Frauen mit einem ungesunden Pornokonsum. Für Erektionsprobleme existiert ebenso kein weibliches Pendant. Die häufigsten Probleme sind Erektionsprobleme, vorzeitiger Samenerguss, Orgasmushemmung, schädlicher Pornokonsum und Unsicherheit in der Sexualität. Oft gesellt sich Lustlosigkeit dazu bzw. ist Lustlosigkeit die Folge eines Problems. Außerdem mangelt es häufig an Verführungskompetenz, Männer wissen nicht, wie sie flirten bzw. eine Frau ansprechen können. Dazu kommt ein mangelndes Wissen die weibliche Anatomie betreffend.
Da bräuchte es für Männer wohl mehr Aufklärungsunterricht?
Wir helfen Männern, ihr sexuelles Profil zu erkunden und zu verstehen. Es geht nicht nur darum, technisch „gut“ im Bett zu sein, sondern tieferes Verständnis und Wertschätzung für die eigene und die Sexualität der Partnerin zu entwickeln. Das ist ein Weg zur Selbstentdeckung und Selbsterkenntnis – und ein Schlüssel zu persönlichem Wachstum, Selbstliebe, Selbstakzeptanz und erfüllenden Beziehungen.
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Was sich wiederum positiv auf die Gesundheit auswirkt…
Wer die eigene Sexualität zu verstehen und zu gestalten lernt, verbessert die individuelle sexuelle Gesundheit und das Wohlbefinden. Das trägt insgesamt zu einer gesünderen und zufriedeneren Gesellschaft bei. Mit einer gesunden und bewussten Sexualität integriert man alle Aspekte von Körper, Geist und Seele. Ein Mann, der sich kennt, für sich sorgt und sich mag, ist attraktiv. Ich bin immer wieder fasziniert und berührt, wie viel sich zum Positiven verändern lässt, wenn sich ein Mann auf den Weg macht und Verantwortung für sich und seine Sexualität übernimmt.
Sie sagen: Sex kann man lernen – im Sinne einer Ressource, die sich im Laufe des Lebens verändert.
Richtig. Sexualität ist nichts Starres, Unveränderbares, sondern verändert sich im Laufe eines Lebens ohnehin. Viele beschreiben Sexualität als etwas Triebhaftes. In der neueren Sexualwissenschaft spricht man aber eher von einer Ressource, die gestaltet und optimiert werden kann. Jeder kann lernen, an den verschiedenen Ebenen der Sexualität zu arbeiten, sie zu verstehen und zu verbessern. Sie ist mehr als nur triebhafte Biologie, sie integriert die psychologische, emotionale, soziale, körperliche und kreative Elemente.
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Buchtipp
Beatrix Roidinger: „Best Lover. So spürst du mehr, steuerst besser deine Lust und fühlst dich freier beim Sex.“
Verlag Goldegg. 300 Seiten. 25 Euro
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