Angehörige psychisch Erkrankter beraten: Was hilft, was stärkt

Klarheit und Ruhe: Das strahlt Birgit Schrentewein aus, wenn sie über ihre Arbeit bei HPE spricht – eine gemeinnützige Beratungsstelle für Angehörige psychisch erkrankter Menschen. Das Zimmer, in dem wir einander gegenübersitzen ist hell und freundlich, die Bilder an der Wand sind bunt und lebensbejahend – so bunt wie die Sessel, in denen die psychosoziale Beraterin den Klientinnen und Klienten gegenübersitzt, um deren Anliegen zu lauschen.
Warum sie sich für diesen Berufsweg entschieden hat? Sie hält kurz inne und lächelt, um zu überlegen: „Nicht aus eigener Betroffenheit, wie manchmal vermutet wird, sondern, weil ich im Laufe meiner Berufsjahre sehr oft mit Angehörigen zu tun hatte. Ich habe mit jungen Menschen gearbeitet, ich habe mit alten Menschen gearbeitet zu vielen verschiedenen Themen. Aber immer waren auch die Angehörigen präsent, weil sie entweder mitgekommen sind oder als unglaublich wichtiges Netzwerk fungierten. Und da habe ich bemerkt, wie spannend und wichtig genau dieser Punkt ist. Weil es um die Frage geht, wie sich dieses bedeutende Netzwerk gut unterstützen lässt.“ Was sich wie ein weiterer roter Faden durch ihren Berufsweg zieht, sei außerdem die Arbeit rund um psychische Erkrankungen.
Schätzungen zufolge haben etwa 25 bis 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens mit psychischen Symptomen und Erkrankungen zu kämpfen, bis zu fünf Prozent in einem schweren Ausmaß. Und es werden immer mehr.
Gehört und gesehen werden
Eine Last, die nicht nur die Betroffenen tragen müssen, sondern auch ihre Angehörigen, also Partner, Eltern, Großeltern, Geschwister, Kinder und Freunde. Von ihnen leiden 60 Prozent unter der Belastung durch die psychische Erkrankung, heißt es bei HPE. Umso wichtiger ist es, dass auch sie gehört und gesehen werden – also eine Stimme bekommen, um nötige Informationen zu erhalten und Unterstützung zu erfahren.

Birgit Schrentewein
Der Weg in die Beratungsstelle ist oft ein langer, mit so manch inneren Hürden. „Sich zuzugestehen, Hilfe zu brauchen, ist nicht immer einfach“, sagt Birgit Schrentewein. „So wie es für die Erkrankten ein langer Weg ist, bis sie eine Therapie in Anspruch nehmen, dauert es auch bei Angehörigen, bis sie sich Unterstützung holen, um erstmals darauf zu schauen, was sie für sich tun können.“
Was sie da häufig wahrnimmt, ist ein gewisses „Muss“, im Sinne eines inneren Mantras: „Das muss ich alles aushalten, ich bin schließlich gesund. Ich muss diese Kraft aufwenden, um zu unterstützen.“ So ähnlich die Glaubenssätze sind, die ihr in den Beratungen immer wieder begegnen, so groß ist die Vielfalt der Anliegen. Wohl deshalb erlebt sie das Einzel-Setting unter vier Augen als besonders spannend: „Wenn jemand zu mir kommt, weiß ich zunächst nicht, worum es geht. Um Informationen zur Krankheit, um ein Entlastungsgespräch, braucht jemand eine rechtliche Information?
Oder es stellen sich Fragen zum Umgang mit dem Erkrankten. Das heißt, es ist alles sehr offen und entwickelt sich meist erst im Laufe des Gesprächs. Manchmal kommt jemand mit einem konkreten Anliegen, nach einer Stunde ist alles anders.“ Dies sei abhängig vom Krankheitsbild: „Häufig handelt es sich um Patienten, wo es noch gar keine Diagnose gibt und wo Angehörige das Gefühl haben, ihr Mensch befinde sich gerade in einer psychischen Krise. Da geht es vor allem um den Umgang damit. Und ein Bedürfnis nach Sicherheit.“ Oft empfindet sich die psychosoziale Beraterin auch als Übersetzerin – indem sie beispielsweise erläutert, was eine vom Psychiater gestellte Diagnose und Therapievorschläge bedeuten können.
Was soll ich nur tun?
Häufige Themen sind Psychosen oder schizophrene Störungen – und natürlich Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Angst und Zwang. Egal, was es ist: Damit ist immer ein breites Spektrum an Gefühlen verknüpft, im Verbund mit der vorrangigen Frage: „Was soll ich nur tun?“ Schrentewein: „Die meisten Menschen, die zu mir finden, stehen unter hohem Druck, suchen nach Orientierung, versuchen, das Erlebte einzuordnen und sich zu strukturieren.“ Nicht zu unterschätzen sei außerdem das Stigma und die Scham, die manche Krankheitsbilder mit sich bringen: „Es ist ein Unterschied, ob es sich um ein Burnout, eine Depression oder um eine Psychose handelt. Zu sagen, mein Sohn oder Partner ist depressiv oder leidet an einem Burnout, weil er zu viel gearbeitet hat, hat in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert, als wenn ich sage, mein Sohn hat eine Psychose und fühlt sich verfolgt. Das ist ein Krankheitsbild mit hohem Stigma.“
Wut, Hilflosigkeit, Ohnmacht
Wenn ein Familienmitglied psychisch erkrankt, ist das immer ein großer Einschnitt im gesamten System. Zunächst ist da nur eine Ahnung, man stellt unterschiedliche Wesensveränderungen fest, fühlt sich verunsichert und ratlos.
In Folge entstehen Gefühle wie Wut, Hilflosigkeit und Schuld. Je nach „Position“ und Bezug zum Erkrankten, stellen sich unterschiedliche Fragen und entstehen unterschiedliche Problematiken. Denn: „Angehöriger ist nicht Angehöriger, das hängt von der Rolle ab. Eine Mutter oder ein Vater nimmt eine andere Rolle ein, als zum Beispiel eine Partnerin oder ein Partner. Daher braucht jeder etwas anderes, weil sie unterschiedliche Verpflichtungen in sich spüren.“ Die Art der Beratung hängt außerdem davon ab, an welchem Punkt sich die Erkrankten und Angehörigen gerade befinden: „Es macht einen großen Unterschied für mich, ob es sich gerade um eine akute Krise handelt oder um eine Nicht-Krise. Phasen akuter Krisen erschweren oft die Kommunikation mit den Betroffenen, da verändert sich auch der Alltag sehr. So betrachtet, ist es nie möglich, pauschale, also allgemeingültige, Tipps oder womöglich Ratschläge für einen Fahrplan zu geben.“
Birgit Schrentewein sieht ihre Aufgabe daher darin, die jeweilige individuelle Geschichte zu erforschen und zu differenzieren, mit welchen Herausforderungen sich dieser Mensch – aus seiner Position heraus – auseinanderzusetzen hat. Grenzen sind da ein häufiges Thema, vor denen viele Angehörige Angst haben, sie zu setzen – hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe und dem verständlichen Wunsch, sich abzugrenzen. Aber, so Schrentewein: „Hier gilt es zu bedenken, dass Grenzen auch immer Halt geben können, indem sie Klarheit und Struktur schaffen. Damit wird die Verantwortung zurückdelegiert, was für die psychisch Erkrankten sehr wichtig sein kann, im Sinne der Selbstermächtigung.“
Ressourcen entdecken
Das Thema „Selbstermächtigung“ hat auch für Angehörige einen großen Stellenwert. Für schnelle 0-8-15-Tipps ist die Beraterin allerdings nicht zu haben: „Ich bin keine, die ein paar Floskeln parat hat, vielmehr geht es mir darum, herauszufinden, was individuell hilft. Aber auch Erfahrungen weiterzugeben, was anderen geholfen hat, im Sinne einer Ressource. Was tatsächlich als unterstützend erlebt wird, muss jeder selbst entdecken.“ Ziel sei es außerdem, sich Netzwerke aufzubauen – eines für gute Zeiten und eines für schlechte.
Und auf welche Netzwerke und Ressourcen greift Birgit Schrentewein zurück? „Wesentlich für mich ist das Team mit den großartigen Arbeitskollegen – das erlebe ich als mein persönliches Netzwerk. Und natürlich nehme ich professionelle Supervision in Anspruch. Ansonsten helfen mir Bewegung, Freunde und Beziehungen – alles, was Freude macht und guttut.“
Wenn ein nahestehender Mensch an einer psychischen Erkrankung leidet, stehen Angehörige, aber auch Freunde vor unterschiedlichen Belastungen und vielen Fragen:
- Was bedeuten bestimmte Wesensveränderungen – wie spreche ich das Thema überhaupt an?
- Was sind mögliche Ursachen für eine psychische Erkrankung?
- Wo gibt es Behandlungsangebote für den erkrankten Menschen?
- Wie können wir trotz Erkrankung im Alltag gut miteinander umgehen?
- Was bedeutet diese Diagnose genau?
- Welche sozialrechtlichen Ansprüche haben wir?
- Wie kann ich mit meinen eigenen Belastungen, Ängsten und Sorgen umgehen?
HPE – für: „Hilfe für Angehörige psychischer Erkrankungen“ ist ein gemeinnütziger Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lebensqualität Angehöriger psychisch Erkrankter zu verbessern. Dies basiert auf vier Grundpfeilern: der Beratung, der Selbsthilfe, der Informationsvermittlung und der Interessensvertretung. Dafür erhalten Angehörige zeitnah kostenlose telefonische, persönliche oder virtuelle Beratung durch erfahrene Angehörige oder professionelle Beraterinnen und Berater. Außerdem werden regelmäßige Selbsthilfegruppen und Seminare zu unterschiedlichen Themen angeboten, sodass ein persönlicher Austausch stattfinden kann. HPE gibt es in allen Bundesländern Österreichs. Info: hpe.at
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