Wissenschafterin zur Pflegekrise: "Pflegen kann jeder, aber wie?"

Steigender Bedarf, wenige Ressourcen: Die Pflege steckt in der Krise, heißt es. Das wirft Fragen auf – Fragen, denen sich die Pflegewissenschafterin Prof. Dr. Sabine Pleschberger im Rahmen ihrer Stiftungsprofessur am Zentrum für Public Health seit Dezember 2023 leidenschaftlich widmet. Ihr Ziel ist es, Forschung und Lehre im Bereich der Pflege weiter auszubauen, um eine qualitätsvolle pflegerische Versorgung in einer alternden Gesellschaft bis zum Lebensende sicherzustellen – und dafür humane Lösungen zu suchen und zu entwickeln.
KURIER: Pflegekrise, ein viel zitiertes Wort. Wie sehen Sie das als jemand, der sich wissenschaftlich damit befasst?
Prof. Dr. Sabine Pleschberger: Ich persönlich mag das Wort Krise nicht, denn es tut der Pflege nicht gut, wenn sie fast nur noch in Verbindung mit diesem Begriff erwähnt wird. Immerhin wird dadurch die Sichtbarkeit erhöht, eines Bereiches, der in der Gesellschaft viel zu lange marginalisiert, fast tabuisiert wurde. Nun wird zunehmend deutlich, dass professionell Pflegende entsprechende Rahmenbedingungen benötigen, damit sie ihren Beruf gut ausführen können. Da braucht es Korrekturen, auch seitens der Politik. Und ein Zugeständnis, dass man über viele Jahre säumig gewesen ist.
Worin liegt dieses Tabu begründet?
Abgesehen davon, dass es sich bei Pflegearbeit traditionell um einen sogenannten „weiblichen Liebesdienst“ handelt, der lange eben nicht als eigenständiger oder gar professioneller Beruf anerkannt wurde, ist Pflege etwas, das nah an die existenziellen Seiten des Menschseins herankommt. Da geht es um intime, schambesetzte Bereiche. Das sind sehr persönliche Themen. Eine Rolle spielt auch das vorherrschende Menschenbild in unserer Gesellschaft. Man will sich stark und leistungsfähig präsentieren, möglichst bis ins hohe Alter, keinesfalls mit Handicaps oder Einschränkungen. Alles, was die Schwäche oder Vulnerabilität der Menschen betrifft, wird möglichst verdrängt. Es scheint mit unserer Identität immer weniger vereinbar zu sein.

Prof. Dr. Sabine Pleschberger, Pflegewissenschafterin
Wie würden Sie die „Krise“ denn alternativ bezeichnen und beschreiben?
Man könnte von knappen Personalressourcen im Gesundheitswesen sprechen oder Pflegepersonalmangel. Pflegenotstand ist aus wissenschaftlicher Sicht ein Begriff, der nochmals drastischer auf Probleme in der Praxis der Versorgung hinweist, aber auch nicht inflationär oder zu leichtfertig verwendet werden soll. Denn wenn ich einen ganzen Sektor und ein ganzes Feld ausnahmslos nur als krisenhaft und katastrophal darstelle, dann trägt das zur Behebung eines Mangels nichts bei, schürt aber diesbezügliche Ängste bei vielen Menschen. Beim Thema „Pflegebedürftigkeit“ sind wir schnell bei hochsensiblen Aspekten. Also dort, wo es jeden Einzelnen persönlich und tief im Inneren betrifft, was auch viel mit Würde zu tun hat.
Pflegewissenschaft – ein Begriff unter dem sich viele Menschen nicht viel vorstellen können. Wie würden Sie ihn erklären?
Die Pflegewissenschaft beschäftigt sich mit allen Fragestellungen, bei denen es um die Auswirkungen geht, die Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit auf die Menschen und ihr Leben, ihren Alltag, haben. Sie beschäftigt sich mit dem pflegerischen Handeln selbst und welche Auswirkungen verschiedene pflegerische Interventionen auf die Menschen haben. Diese werden laufend neu oder weiterentwickelt. Der Bedarf ändert sich ja, auch in Folge neuer diagnostischer oder therapeutischer Verfahren in der Medizin. Außerdem befasst sich die Pflegewissenschaft mit Fragen von Organisation und Ablauf pflegerischen Handelns, der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen, der Berufsausübung und der Professionalisierung pflegerischer Berufe, auch mit Aspekten verschiedener Pflegeangebote und -einrichtungen, deren Finanzierung, etc.. Aber da geht es schon in den Bereich von Public Health, dem die Sitftungsprofessur ebenso angehört.
Was sind denn die Hauptursachen, weshalb Menschen aus dem Pflegeberuf flüchten oder gar nicht erst reingehen?
Eine gewisse Fluktuation gab es, wie bei allen anderen Berufen, auch in der Pflege schon immer. Wir wissen ebenso, dass die Covid-19-Pandemie einen enormen Druck auf die Berufsgruppe ausgeübt und eine Dynamik befeuert hat, bestimmt durch Unterbesetzung und Krankenstände beim Pflegepersonal selbst, erhöhte Anforderungen und teilweise Überbelegung auf der anderen Seite. Das System geriet zudem unter Druck, weil es über einen längeren Zeitraum keine Perspektive für Entlastung gab. Es wird berichtet, dass sich dies wieder stabilisiert zu haben scheint, aber es gibt in Österreich leider keine robusten Daten. All das müsste man systematisch untersuchen: Wer kündigt, wo gehen diese Menschen hin? Ich hoffe doch, dass alle Arbeitgeber versuchen, das herauszufinden.
Wie wird der Pflegeberuf attraktiver?
Das eine ist, den Beruf, das andere, einen Arbeitsplatz attraktiver zu machen – zu beidem gibt es Forschung und Studien. Da zeigt sich vor allem die Bedeutung der Führung: Kriege ich Wertschätzung? Wird mein Tun gesehen? Wird rechtzeitig gesagt, wann ich einspringen muss? Stabile Dienstpläne sind wichtig, verlässliche Rahmenbedingungen, die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsangeboten. Auch die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, im Sinne von Karrieremodellen und -perspektiven.
Also alles Voraussetzungen, um den Job gut zu machen – auch im Sinne des Berufsethos.
Richtig. Es geht auch, aber nicht nur, um angemessene Bezahlung, sie ist nur ein Teil im gesamten Gefüge. Wesentlich ist ausreichend Zeit für die Pflege. Also dass jemand seinen Job gut machen kann, nicht permanent unter Druck steht, mit dem Gefühl, da würde es noch etwas brauchen, doch es geht sich nicht aus. Diese Arbeitsverdichtung hat über Jahre hinweg stattgefunden, in allen Bereichen, weil aus Gründen der Effizienz immer mehr rationalisiert und – wie sich gezeigt hat – auch rationiert wurde. Es führt zu Unzufriedenheit, wenn Pflegepersonen das Gefühl bekommen, dass sie ihren Beruf nicht mehr gut machen können. Ein Beispiel: Wenn ich ausreichend Zeit für Gespräche, Zuwendung – die sogenannte Interaktions- und Beziehungsarbeit – habe, gestaltet sich etwa die Körperpflege bei einem alten oder verwirrten Menschen als pflegerische Handlung, die von allen Beteiligten als würdevoll erlebt wird und das Wohlbefinden steigert. Aber es ist nicht attraktiv, das wie am Fließband machen zu müssen, weil die Ressourcen so knapp sind.
Dann kommt es womöglich zu Kompensationsstrategien, die menschlich nachvollziehbar, aber für Patienten heikel sein können…
Richtig. Das Cooling-out in der Pflege ist so ein Phänomen, wo eine Form moralischer Desensibilisierung entsteht, und die Empathie verloren geht.
In der Ausbildung hat sich aber vieles getan...?
Die vergangenen Jahre brachten zahlreiche Veränderungen für das Berufsbild, im Sinne von Professionalisierung. Das ehemalige Diplom ist jetzt auch ein Bachelor, Voraussetzung dafür ist die Matura. Darauf aufbauend gibt es Masterprogramme – Fachkarrieren in der Pflege, die wir dringend brauchen. Auch weil es so viel spezialisiertes Wissen gibt oder spezielle Einsatzbereiche, was in der Grundausbildung nicht vermittelt werden kann. Außerdem gibt es seit 2016 die Berufe Pflegeassistenz und Pflegefachassistenz, wo man ohne Matura an Schulen für Gesundheits- und Krankenpflege ausgebildet wird. Im Anschluss daran kann man sich weiter qualifizieren, das heißt, das System ist in Österreich in hohem Maße durchlässig.
Es heißt oft „Pflegen kann jeder…“
Ja, genau, pflegen kann jeder, es fragt sich nur wie? Es geht darum, ein Riesenspektrum an Pflegebedarf abzudecken, von der Intensivpflege bis zur Langzeitpflege. Für die verschiedenen Felder braucht es unterschiedliche Ausbildungsgrade und Qualifikationen, auch, weil sich die Medizin enorm weiterentwickelt hat.
Sie haben eine Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegeperson absolviert. Was konnten Sie aus dieser Zeit an Impressionen und Credo mitnehmen?
Die Motivation, dass Menschen, wenn sie hilfe- und pflegebedürftig werden, gut aufgehoben sind. Das ist das Ethos dieses Berufs, und genau das war immer spannend, herausfordernd, nie langweilig. Diesen Spirit nahm ich mit, die Leidenschaft für einen Beruf, der so vielseitig ist, wie kaum ein anderer.
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