Ist Afrika doch nicht so sehr vom Coronavirus verschont geblieben?
Fast ein Drittel der mehr als 1.000 Leichen, die 2020 und 2021 in einem Leichenschauhaus in Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, untersucht wurden, waren positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden. Das heißt: Es sind viel mehr Menschen an Corona gestorben, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Einige Wissenschaftler sind in einem Vorabdruck einer Studie, über die jetzt auch Nature berichtete, der Ansicht, dass die Ergebnisse das "afrikanische Paradoxon" weiter entkräften, also die Behauptung, dass die Pandemie in Afrika weniger schwerwiegend war als in anderen Teilen der Welt.
Südlich der Sahara
Dieser Gedanke kam auf, nachdem Gesundheitsexperten festgestellt hatten, dass die Länder südlich der Sahara weniger Fälle und weniger COVID-19-Todesfälle meldeten, als zu erwarten gewesen wäre. Die Forscher sind jedoch der Ansicht, dass die Ergebnisse aus Sambia eine andere Sicht der Dinge widerspiegeln: Ein Mangel an Tests und eine angespannte medizinische Infrastruktur haben die wahre Zahl der COVID-19-Fälle auf dem Kontinent verschleiert. Die Ergebnisse der Untersuchung sind aber noch nicht von externen Fachleuten geprüft worden.
Kranke Menschen
Das wahre Ausmaß von COVID-19 in Lusaka und darüber hinaus zu ignorieren, "ist so falsch. Die Menschen waren krank. Ihre Familien wurden zerstört", sagt Mitautor Christopher Gill, ein Spezialist für globale Gesundheit an der Boston University in Massachusetts. Einer seiner Kollegen in Sambia starb während der Arbeit an dem Projekt an COVID-19.
Als sich das Virus weltweit auszubreiten begann, befürchteten viele Gesundheitsforscher, dass das Virus die afrikanischen Länder südlich der Sahara heimsuchen würde. Doch die überraschend niedrige Zahl der gemeldeten COVID-19-Fälle in der Region führte zu der Annahme, "dass die durch COVID-19 verursachten schweren Schwächungen und Todesfälle in Afrika im Vergleich zu anderen Kontinenten irgendwie geringer waren", sagt Yakubu Lawal, ein Endokrinologe am Federal Medical Centre Azare in Nigeria.
Junge Bevölkerung
Lawal und andere Wissenschaftler spekulierten, dass die relativ junge Bevölkerung Afrikas dazu beigetragen haben könnte, den Kontinent zu verschonen, vermuteten aber auch, dass die offiziellen Zahlen zu niedrig angegeben wurden. Die Frage war nur, um wie viel.
Auf der Suche nach Antworten untersuchten Gill und seine Kollegen in Sambia über mehrere Monate in den Jahren 2020 und 2021 Leichen in einer der größten Leichenhallen Lusakas auf SARS-CoV-2. Der Anteil positiver Tests lag insgesamt bei 32 % - und erreichte auf dem Höhepunkt der durch die Beta- und Delta-Varianten ausgelösten Wellen rund 90 %. Außerdem waren nur 10 % der Personen, in deren Körper das Virus nach ihrem Tod gefunden wurde, zu Lebzeiten positiv getestet worden. Einige waren fälschlicherweise negativ getestet worden, aber die meisten waren überhaupt nicht getestet worden.
Mit oder an Covid
Obwohl Gill und seine Kollegen nicht bestätigen können, dass alle diese Menschen an COVID-19 gestorben sind, stehen die Ergebnisse doch in scharfem Kontrast zu den offiziellen Zahlen. Bisher gab es in Sambia, einem Land mit rund 19 Millionen Einwohnern, weniger als 4.000 bestätigte COVID-19-Todesfälle. Getrennte Ergebnisse, die am 10. März veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass die Übersterblichkeit in Sambia vom 1. Januar 2020 bis Ende 2021 mehr als 80.000 Todesfälle beträgt.
Die wahre Zahl der Todesopfer
Die Zahlen aus Lusaka decken sich mit Statistiken aus Südafrika, wo eine Studie aus dem Jahr 2021 ergab, dass nur 4-6 % der Infektionen in zwei Gemeinden offiziell dokumentiert wurden. Eine weitere Studie in denselben Gemeinden ergab, dass 62 % der Studienteilnehmer zwischen Juli 2020 und August 2021 mindestens einmal infiziert worden waren. Mitautorin Cheryl Cohen, Epidemiologin an der University of the Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika, sagt, dass viele dieser Infektionen asymptomatisch waren, dass aber auch Menschen mit Symptomen aufgrund der Kosten und der Schwierigkeit, sich testen zu lassen, unerkannt geblieben sein könnten.
Nicht in den Spitälern
Gill vermutet, dass ein Hauptgrund für die Diskrepanz zwischen seinen Ergebnissen und den offiziellen Zahlen darin liegt, dass die meisten Menschen in Sambia, die an COVID-19 sterben, dies außerhalb der medizinischen Versorgung tun. Vier von fünf der in der Studie getesteten Personen wurden nie in ein Krankenhaus eingeliefert; die meisten nicht gemeldeten Infektionen traten bei Menschen auf, die in den einkommensschwächsten Vierteln Lusakas lebten.
"Niemand ist geimpft. Niemand hat Masken. Niemand hat Zugang zu der medizinischen Versorgung, die er braucht", sagt Gill. "Wir haben es mit einer Bevölkerung zu tun, die ohnehin schon gestresst und ungesund ist, und dann kommt Covid."
Zweifel
Doch nicht jeder ist davon überzeugt, dass die Ergebnisse von Lusaka die Idee des afrikanischen Paradoxons entkräften. In Äthiopien zum Beispiel "haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen mit dem Virus infizieren, keine oder nur leichte Symptome haben und wieder gesund werden", sagt Amare Abera Tareke, Physiologe an der Wollo-Universität in Dessie. "Es ist zwar schwierig, den aktuellen Befund zu ignorieren, aber wir müssen ihn mit Vorsicht genießen."
Gill befürchtet, dass die Vorstellung, Afrika sei vom Schlimmsten der Pandemie verschont geblieben, die Menschen dazu verleitet haben könnte, unnötige Risiken einzugehen, oder dazu beigetragen hat, dass die Versorgung der afrikanischen Länder mit Impfstoffen "nicht so dringend" war.
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