Werden zu viele Antibiotika und Beruhigungsmittel verschrieben?
Kann weniger mehr sein? Wenn sich die Ethnologin und Politikwissenschafterin Janina Kehr, Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien, diese Frage stellt, dann bezieht sie diese ganz konkret auf die Verschreibung bestimmter Medikamente in Wien - und zwar Antibiotika und Benzodiazepine (Schlaf- und Beruhigungsmittel). Kehr leitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Lisa Lehner sowie Igor Grabovac von der MedUni Wien ein großes, vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds WWTF gefördertes Projekt. „Wir sehen uns an, wie Antibiotika und Benzodiazepine in Wien verschrieben und konsumiert werden“, sagt Janina Kehr in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftstalks „Spontan gefragt“ auf KURIER.TV. „Und wir stellen uns die Ausgangsfrage, kann es besser sein, wenn man weniger verschreibt?" Die Sendung entsteht in Kooperation mit dem WWTF.
Spontan gefragt: Janina Kehr und Lisa Makas
In einer ersten Phase erheben die Forschenden die Ausgangslage: Einerseits mit Interviews mit Patientinnen und Patienten sowie mit Ärztinnen und Ärzten, andererseits durch die Auswertung von Verschreibungsdaten der Österreichischen Gesundheitskasse.
„Aber ist es jetzt zu viel oder passt es eh, wie man so schön in Wien sagt“, fragt der Genetiker und Sendungsmoderator Markus Hengstschläger von der MedUni Wien.
„Ich glaube, es passt nicht eh, sonst würden wir das Projekt nicht machen“, antwortet Kehr. „Was nicht heißt, dass es immer Riesenprobleme gibt.“
Bei Antibiotika seien das Damoklesschwert die Resistenzen. „Das heißt, wir haben irgendwann Medikamente, die nicht mehr wirken. Und Krankheiten wie Tuberkulose zum Beispiel, die eigentlich mit einer Kombinationstherapie behandelbar sind, sind vielleicht irgendwann nicht mehr behandelbar." Und bei den Benzodiazepinen sei es die Problematik der Abhängigkeit: "Es kann nicht zu 100 Prozent passen, wenn Medikamente auch teilweise vielleicht mehr schaden als nutzen. Und darum geht es: Hier einzuhaken und einfach einmal genauer hinzuschauen."
Erfahrungen einer Profifußballerin mit Medikamenten
Die ehemalige österreichische Profi-Fußballerin und jetzige sportliche Leiterin der FK Austria Wien Frauen, Lisa Makas, war immer sehr zurückhaltend bei Schmerzmitteln. 2022 war die Fußball-Europameisterschaft der Frauen in England das letzte große Ereignis ihrer aktiven Karriere. "Und ich habe auch gewusst, dass es danach aus ist. Da habe ich sicher das eine oder andere Medikament mehr genommen um zum Beispiel zu verhindern, im Knie eine Entzündung zu bekommen. Aber ich habe es trotzdem jederzeit unter Kontrolle gehabt und ich habe nicht täglich Medikamente genommen. Und ich muss Gott sei Dank sagen, dass es nicht in Richtung Abhängigkeit gegangen ist.“ Wenn sie heute etwas spüre, nehme sie aber nichts, gebe Ruhe und versuche mit Übungen es wieder gut zu machen.
In Österreich hätten die Ärzte immer geschaut, dass der Einsatz von Schmerzmitteln im Rahmen bleibe, betont Makas. Im Ausland habe sie bei einem Verein aber auch einmal bei einer jungen Spielerin eine andere Situation erlebt: "Sie hatte damals extreme Schmerzen im Mittelfuß, obwohl sie bereits vier oder fünf Schmerzmittel einnahm. Sie hat gesagt, sie könne nicht spielen, der Schmerz sei zu stark. Die Reaktion des Trainers damals: "Dann gebt´s ihr halt noch zwei Schmerzmittel dazu." Daraufhin sei sie eingeschritten und habe geantwortet, "nein, nicht noch zwei Schmerzmittel dazu. Das ist ein junges Mädchen, sie hat schon fünf, und sie ist einfach verletzt, man muss schauen, woran es liegt." Sie habe damals etwas gesagt, weil sie einen persönlichen Bezug zu der Kollegin hatte: "Aber ich glaube, dass so etwas schon sehr oft passiert und dann viele nichts sagen."
"Ich glaube, diese Medikamente - seien es Schmerzmittel oder auch teilweise Psychopharmaka oder Antibiotika, sind so eine Art Infrastruktur - nicht nur für die Medizin, sondern auch für unser modernes Leben. Man muss halt einfach schnell weiter funktionieren." Und nicht alle können sich dann herausnehmen und zu sagen, "dann mache ich jetzt einmal weniger, weil der Druck ist da." Und deshalb sei es wichtig, nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich zu schauen, was mit diesen Substanzen eigentlich passiere und wie Verschreibung und Konsum dieser Arzneimittel in und um Wien nachhaltiger und sicherer gestaltet werden können.
Der Fachbegriff dafür ist "De-Prescribing" - "das ist ein Modell zu versuchen, systematisch weniger zu verschreiben, wenn der Schaden den Nutzen potenziell überwiegt. Es geht darum, Routinen zu hinterfragen", sagt Kehr. Wobei das System insgesamt sehr komplex sei: "Es reicht nicht jetzt einfach zu sagen, Ärztinnen und Ärzte müssen weniger verschreiben und die Patientinnen und Patienten müssen das machen, was die Ärzte sagen. Denn die Menschen gehen dann halt entweder zu einem anderen Arzt oder organisieren sich Medikamente auf dem Schwarzmarkt." Kehr betont, es gehe nicht darum, Menschen etwas wegzunehmen: "Es geht darum zu schauen, welches gute Maß kann man eigentlich finden - vielleicht ein bisschen mehr nachfragen, auf die Menschen eingehen und maßgeschneiderte Lösungen finden."
Kommentare