Lähmung nach Schlaganfall: Wie ein Patient trotzdem wieder greifen kann
Die Testprothese auf dem Tisch neben Roman Hoebrechts ist mit Elektroden mit seinem Unterarmstumpf verbunden. „Ich kann intuitiv ihre Finger öffnen, schließen, die Hand drehen, einen kleinen Ball fassen, halten, loslassen. Mit meiner eigenen Hand konnte ich gar nichts mehr.“
Der 53-jährige belgische Bäckermeister sitzt im Klinischen Labor für Bionische Extremitätenrekonstruktion der MedUni / AKH Wien. 2011 hatte er einen schweren Schlaganfall – große Teile seiner rechten Körperhälfte waren gelähmt und ohne Funktion. Dank intensiver Physiotherapie kann er heute wieder gehen. Auch in der Schulter und im Ellbogen verbesserte sich die Beweglichkeit. Nur bei der Handfunktion tat sich nichts: „Nach drei Jahren hat man mir in Belgien gesagt, dass sie unbeweglich bleiben wird und man nichts mehr für mich machen könne.“
Im Internet las er von Patienten, bei denen am Wiener AKH nach Arbeits- oder Verkehrsunfällen eine Unterarm-Amputation notwendig wurde: Und wie es diese schafften, durch die Verlagerung von Nerven aus der Brust in den Oberarm eine myoelektrische Prothese durch Muskelsignale intuitiv zu steuern.
Weltweit erster Fall
„Herr Hoebrechts kam zu uns mit der Frage, ob wir auch bei ihm seine Handfunktion mit einer solchen Prothese wiederherstellen können“, sagt der plastische Chirurg Oskar Aszmann von der Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie am Wiener AKH / MedUni Wien und Leiter des Labors. Bei einem Schlaganfallpatienten wurde ein Nerventransfer samt Amputation weltweit noch nie durchgeführt.
„Bei seinem ersten Besuch konnten wir keine ausreichenden elektrischen Muskelsignale am Unterarm messen – er konnte die Muskeln nicht mehr kognitiv über das Zentralnervensystem ansteuern“, erklärt Aszmann. „Wir haben also zwei Nerven, die er noch kontrollieren kann, mit zwei Muskeln verbunden, die er nicht mehr kontrollieren konnte.“
Im Oktober 2018 wurde Hoebrechts von Oskar Aszmann in Wien operiert. Dieser hat zwei Nerven von Hoebrechts „umgeleitet“: Einen ursprünglich für den Brustmuskel zuständigen Nerv in den Oberarm, und im Oberarm selbst einen Nerv, der für den Trizeps zuständig war. Vom Oberarm wuchsen die Nerven täglich einen Millimeter Richtung Unterarm – „wie ein Kabel, das neu verlegt wurde“, sagt Aszmann. „Nach neun Monaten konnten wir erstmals elektrische Nervensignale am Unterarm messen.“
Neues Verfahren
Lässt sich mit einem Nerventransfer nach einer Lähmung wieder eine Handfunktion herstellen? Oskar Aszmann und seine Arbeitsgruppe untersucht dies am Wiener AKH/MedUni Wien. Es wird vermutet, dass Nerventransfers die Handfunktion von Patienten mit einer Hemiparese (Lähmung einer Körperseite nach Schädigung einer Gehirnhälfte, z.B. durch Schlaganfall) verbessern können. Dies ist insbesondere relevant bei Lähmungen, die seit mindestens drei Jahren bestehen und bei tendenziell jüngeren Patienten (18-65 Jahre). Dabei ist das Ziel die biologische Funktion der Hand zu verbessern, wenn konventionelle Therapie keine weiteren Erfolge mehr bringt.
"Eine Amputation wäre der allerletzte Ausweg“, betont Aszmann.
Kontakt für Anfragen
Klinisches Labor für Bionische Extremitätenrekonstruktionen, Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, AKH / MedUni Wien.
Telefon: 0043 / 1 / 40400 / 68290.
eMail: patient@bionic-reconstruction.com
Hoebrechts konnte jetzt intuitiv zwei Signale an den Arm senden: Eines für „Hand schließen“ und eines für „Hand öffnen“.An seinem Unterarm wurden Elektroden angelegt, die mit einer externen Testprothese verbunden waren: „Wir testeten, ob die Muskelsignale stark genug sind, um sie in Bewegungen umsetzen zu können“, sagt der Doktorand Clemens Gstöttner: „Wenn er es mit der Testprothese schafft, schafft er es nach der Amputation auch mit einer für ihn angepassten Prothese.“
Erste Übungen mit der Testprothese
Hoebrechts elektrische Signale im Unterarm waren stark genug: "In den ersten zwei Tagen musste ich an die Brust denken, um die Hand zu schließen. Aber mittlerweile denke ich nur mehr an die Hand."
Eine Bewegung der eigenen Hand war durch diese Signale aber nicht möglich. „In seinem Fall hätte der Nerventransfer alleine deshalb nicht ausgereicht, um die Handfunktion wiederherzustellen“, sagt die Handchirurgin Olga Politikou. Denn seine neue Muskelaktivität war zwar stark genug, um die elektrische Spannung auf eine Elektrode zu übertragen und für die Prothesenbewegung zu nützen – die Voraussetzung für die Amputation. "Aber für die Bewegung der eigenen Hand – für die Wiederherstellung der biologischen Funktion – waren die Signale zu schwach."
Im Oktober 2019 wurde Hoebrechts der gelähmte rechte Unterarm amputiert.
Nichts bereut
Beim KURIER-Besuch im Labor für Extremitätenrekonstruktion absolvierte Hoebrechts gerade seinen zweiten Trainingstag mit seiner richtigen Prothese. Wie er eine Prothesenhand öffnen und schließen kann, zeigte er aber noch mit der Hybridprothese, die für ihn derzeit noch einfacher zu steuern ist: "Es ist beeindruckend, was er in kurzer Zeit seit der Amputation bereis gelernt hat“, sagt die Physiotherapeutin und medizinische Wissenschafterin Agnes Sturma. "Für Personen nach einem Schlaganfall ist das motorische Lernen besonders schwer."
Die Entscheidung zur Amputation hat Hoebrechts nicht bereut, im Gegenteil: „Jetzt habe ich wieder eine Hand mit Funktion: Greifen, drehen, öffnen, schließen – das alles kann ich wieder. Meine Frau hilft mir derzeit noch beim Waschen oder Anziehen. Aber bald werde ich das mit meinen beiden Händen alleine können.“
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