Kinderliga warnt vor Blackout in der Psychotherapie

Mädchen auf einer Couch
Regional sind die Unterschiede im Angebot groß. Auch bei Logopädie und Ergotherapie gibt es Lücken.

Am 1. Dezember 2022 präsentierte die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit (Kinderliga) im Rahmen einer online Pressekonferenz den 13. Bericht zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich 2022. Ebenso wurden zum ersten Mal öffentlich die Ergebnisse einer, von der Kinderliga in pro bono Kooperation mit der Boston Consulting Group durchgeführten, österreichweiten Umfrage und Datenerhebung zur Versorgungssituation in Bezug auf die Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich - mit Visualisierungen in Versorgungslandkarten - vorgestellt.

Regionale Unterschiede

Fazit des Projekts „Chancengerechte Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Österreich“: Es zeigen sich regional zum Teil sehr große Unterschiede in der Verteilung der Versorgungsangebote. Außerdem orientiert sich das Angebot zumeist nicht am Bedarf, wenn man Gesundheitsrisiken wie Armutsgefährdung oder geringeres Bildungsniveau, Arbeitslosenrate etc. berücksichtigt, sondern scheint, je nach Vertrags- und Verrechnungsmöglichkeiten, historisch gewachsen. „Die Kinderligaumfrage und -erhebung zeigt deutlich, dass Kinder und Jugendliche nicht die gleichen Chancen auf medizinisch-therapeutische und psychosoziale Versorgung in Österreich haben. Wenn hier im Sinne der Chancengerechtigkeit und Versorgungssicherheit von gesundheitspolitischer Seite nicht rasch gehandelt wird, droht ein Blackout in der medizinisch-therapeutischen und psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Österreich!“ lautet der eindringliche Appell der Projektverantwortlichen, Caroline Culen, Geschäftsführerin der Kinderliga. Für die Experten der Kinderliga am Podium der Pressekonferenz braucht es gerade in der aktuellen, krisenhaften Zeit eine Garantie auf Versorgungssicherheit im Bezug auf die Kindergesundheit in Österreich. Neuerliche Forderung nach Kinderministerium mit dem Fokus auf Chancengerechtigkeit Corona, Krieg, Energie- und Klimakrise machen für einen immer höheren Prozentsatz an Kinder und Jugendlichen eine bereits seit vielen Jahren schwierige Situation verstärkt deutlich. Die Talente und Ressourcen vieler Kinder- und Jugendlichen werden wenig gefördert, viele werden emotional und materiell vernachlässigt, sie erleiden Gewalt oder Missbrauch. Immer mehr Kinder haben Versagensängste, zeigen psychosomatische Leiden wie Essstörungen, Hyperaktivität, Aggressionen oder depressive Verstimmungen. Mangelnde Bildungschancen, die mit dem sozioökonomischen Status der Eltern korrelieren, sind in Österreich besonders gravierend. „Jedes vierte Kind ist von Armut bedroht und das nicht selten bereits seit Generationen durch deren Familien, die zu wenige Teilhabechancen nutzen konnten oder einfach nicht erhalten haben. Auch hier ist die Zahl steigend, obwohl die Armutsbekämpfung Teil des Regierungsprogramms ist“, sagt Dr. Christoph Hackspiel, Präsident der Kinderliga. Hackspiel bekräftigt anlässlich des Medientermins einmal mehr die Forderung nach einem eigenen Kinderministerium, dessen Aufgabe es sein müsste, in allen politischen Belangen die Kinderverträglichkeit, die Nachhaltigkeit von Entscheidungen und die Chancengerechtigkeit zu berücksichtigen. „Chancenungleichheit bedeutet nicht nur individuelles Leid, sondern stellt auch volkswirtschaftliche Milliardenverluste für unsere Gesellschaft dar und ist eine Gefährdung des sozialen Friedens“, so Hackspiel.

Versorgungslandkarte macht Chancenungleichheit deutlich

Das, im Rahmen der Pressekonferenz, erstmals präsentierte Projekt der Kinderliga „Chancengerechte Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Österreich“ diente dazu, die Chancenungleichheit im Bereich der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Daten zu untermauern und visuell darzustellen. Ausgangslage für dieses Projekt waren eine Verschlechterung der gesundheitlichen und psychischen Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen durch die COVID-19 Pandemie, die Unterversorgung im psychosozialen Bereich (Psychologie, Psychotherapie) durch lückenhafte Versorgungsstrukturen und fehlende Kostenübernahme durch die Krankenkassen im niedergelassenen Bereich und bei der Behandlung durch klinische Psychologie einerseits, aber auch das zunehmende politische und soziale Bewusstsein in Bezug auf die Relevanz von psychischer Kinder- und Jugendgesundheit andererseits.
Die, der Kinderliga von der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zur Verfügung gestellten, Daten (Leistungsverrechnung im niedergelassenen Bereich), die eingetragenen Versorgerinnen und die niedergelassenen Kassenärztinnen wurden in Österreichkarten visualisiert und mit drei Umfragen zur Bedarfserhebung durch Abgleich mit vorhandenen Leistungen verglichen und ergänzt. Darauf basierend wurde eine erste Abschätzung des tatsächlichen Versorgungsbedarfs in den Berufsgruppen Psychotherapie, Psychologie, Logo-, Ergo- und Physiotherapie und Kinderärztinnen erstellt.

Unterversorgung bei psychosozialen Angeboten

Über die Bundesländer hinweg wurden im Jahr 2020 durchschnittlich 233,3 Stunden Psychotherapie pro 1.000 Kinder und Jugendliche im niedergelassenen Bereich mit der Sozialversicherung (ÖGK, SVS, BVAEB) verrechnet. (Höchstwerte an, mit der SV abgerechneten Stunden, in Krems an der Donau (746,7) und in Sankt Pölten Stadt (612,1), Niederösterreich. Wenig verrechnete Stunden in allen politischen Bezirken in Salzburg (Tiefstwert 45,0) in Hallein, Schärding, Oberösterreich (45,6), sowie Liezen, Steiermark (50,6)). Die, in der Psychotherapie jährlich durchschnittlich 233,3 der SV verrechneten Stunden pro 1.000 Kinder und Jugendliche entsprechen ca. 296.700 Stunden insgesamt. Im Jahr 2020 befanden sich ca. 38.800 Kinder und Jugendliche in psychotherapeutischer Behandlung. Die durchschnittliche Wartezeit liegt derzeit bei rund 4 Monaten. Um den in der Umfrage angegebenen Bedarf zu decken, müssten die aktuell verrechneten Stunden um durchschnittlich 35% bzw. ca. 107.100 Stunden erhöht werden.
Insgesamt gibt es laut Liste des Sozialministeriums etwas mehr als 11.000 Klinische Psychologinnen und rund 10:000 Gesundheitspsychologinnen, die allermeisten sind doppelt zertifiziert, dh. es gibt eine starke Überschneidung. Über die Bundesländer hinweg wurden 2020 durchschnittlich 116,9 Stunden für Diagnostik pro 1.000 Kinder und Jugendliche über die SV abgerechnet (Höchstwerte in Villach-Stadt (291,7) und Villach-Land (253,3), sowie in Hermagor (231,5), Kärnten Tiefstwerte in der Steiermark, vor allem Südoststeiermark (16,4), Bruck-Mürzzuschlag (26,5), Murtal (26,5), Leibnitz (33,2) und Liezen (33,8), gefolgt von Oberpullendorf im Burgenland (35,4)). Dies entspricht ca. 145.200 Stunden insgesamt. Im Jahr 2020 haben rund 40.800 Kinder und Jugendliche psychologische Diagnostik in Anspruch genommen. Die Wartezeit beträgt laut Umfrage derzeit durchschnittlich 3,4 Monate. Um den darüber hinaus gehenden Bedarf zu decken, müssten die aktuell verrechneten Stunden um durchschnittlich 38% bzw. ca. 53.200 Stunden erhöht werden.

Wartezeiten bei funktionalen Therapien im niedergelassenen Bereich

In der Ergotherapie wurden über die Bundesländer hinweg durchschnittlich 119,0 Stunden pro 1.000 Kinder und Jugendliche mit der SV abgerechnet (Höchstwerte in Perg (345,8) sowie in Urfahr-Umgebung (314,6) in Oberösterreich, Tiefstwerte in Leoben, Steiermark (7,2) und in Feldkirch, Vorarlberg (13,5)).
Über die Bundesländer hinweg wurden 2020 durchschnittlich 196,1 Logopädie-Stunden pro 1.000 Kinder und Jugendliche mit der SV verrechnet. Die Stundenanzahl ist somit höher als in der Ergotherapie (Höchste Anzahl verrechneter Stunden in Oberösterreich (291,1) als Bundesland sowie Hermagor, Kärnten (656,9), und Eferding, Oberösterreich (622,9), als politische Bezirke. Wenig verrechnete Stunden in Murau (17,3), Murtal (33,9) und Bruck-Mürzzuschlag (39,0) in der Steiermark).
Von niedergelassenen Physiotherapeutinnen wurden 2020 durchschnittlich 212,8 Stunden pro 1.000 Kinder und Jugendliche mit der SV abgerechnet. (Höchste Anzahl an verrechneten Stunden in Kitzbühel (518,6), Innsbruck-Land (431,8) und Schwaz (430,3), Tirol, niedrige Anzahl an verrechneten Stunden in Wien (110,1), vor allem in den Bezirken 11, 15 und 20, sowie zu geringerem Ausmaß in Lilienfeld, Niederösterreich (103,3) und Oberwart, Burgenland (112,9)).
Im Jahr 2020 haben ca. 14.400 Kinder und Jugendliche Behandlungen in der Ergotherapie, 35.884 in der Logopädie und 17.884 in der Physiotherapie in Anspruch genommen. Der wahrgenommene Bedarf sowie die Wartezeit auf der Warteliste sind in der Ergotherapie am höchsten bzw. längsten – die Physiotherapie sticht als Therapieform mit der am meisten ausreichenden Versorgung sowie der kürzesten Wartezeit heraus.


15 Bezirke ganz ohne Kassen-Kinderarzt-Praxis

Über ganz Österreich verteilt sind knapp 300 Pädiater mit Kassenvertrag tätig. Die Versorgung durch Kinderärzte mit Kassenvertrag ist mit durchschnittlich 0,2 Ärzte pro 1.000 Kinder und Jugendlichen somit sehr gering (Höchstwerte von 0,6 im ersten Bezirk und 0,5 im vierten Bezirk in Wien, Tiefstwerte von 0,0 in 15 politischen Bezirken). Laut der Erhebung der Kinderliga fehlen insgesamt, auf ganz Österreich (unterschiedlich) verteilt, 156 Kinderärzte. 86% aller politischen Bezirke sind von der Unterversorgung durch Kinderärzte betroffen.

Chancengerechtere Versorgung

„Auf Basis der Erkenntnisse und Ergebnisse des Kinderliga-Projekts zur kindergesundheitlichen Versorgungslandschaft in Österreich, haben wir Empfehlungen formuliert, die wir für ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen als dringend notwendig erachten“, sagt Hedwig Wölfl, Vizepräsidentin der Kinderliga. Zusätzlich zu den Empfehlungen nennt Wölfl Impulse, die bei der Umsetzung der Empfehlungen hilfreich sein können:


Problemfeld: Unterschiede in der sozioökonomischen Ausgangslage

Empfehlungen:

  •  Gezielte Investitionen in Regionen mit einer nachteiligeren Ausgangslage in den Bereichen Bildung, Beschäftigung etc.
  • Investitionen in die professionellen Behandler im Kinder- und Jugendbereich:
  • Unterstützung und professionelle Implementierung digitaler Behandlungswege:
  • Verbesserung der Datenlage im Bereich Kinder- und Jugendgesundheit durch nationale Surveys und regelmäßiges Monitoring der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Österreich:
  • Nachhaltige und sichere Finanzierung von multifunktionalen Zentren und Ambulatorien:
  • Implementierung eines nationalen Richtwertes für die psychosoziale Versorgung:
  • Ausbau der pädiatrischen Primärversorgungseinrichtungen

Impulse:

  • KIGGS-Studiei des Roland-Koch-Instituts Deutschland mit BELLAModuliizur psychischen Gesundheit:
  • Beispiel Australien: Gezielte Angebotserweiterung in ruralen Gebieten.
  • Beispiel Kanada: Integration psychosozialer Angebote in ärztliche Versorgungszentren.
  •  telemedicine-Angebote durch Wellness Together Canada und Pocket-Welliii

Problemfeld: Fehlendes leistbares psychosoziales Angebot und lange Wartezeiten


Empfehlungen:

  • Unbürokratische Abrechnung von psychotherapeutischen und klinisch-psychologischen Behandlungen.
  • Verbesserung bestehender Vergütungsstrukturen (Remuneration und Kategorisierung)
  • Aufnahme der Leistung „Klinisch-psychologische Beratung und Behandlung“ in das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz
  • Ausbau der Krisenintervention – Mental Health Helplines/Chatangeboten, verstärkt mobile psychosoziale Teams
  • Systemübergreifende Kooperationen, finanziertes Nahtstellenmanagement

Impulse:

  • Erstellung von Kennzahlen zur psychosozialen Unterstützung im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG)
  • Evaluierung von Coronaprojekten wie „chèque psy“ in F, in GB adolecent mental health servicesiv, in Österreich „Gesund aus der Krise“-Projektv
  • Psychische Gesundheit auf e-card Österreich: Einbezug psychosozialer Unterstützung im Österreichischen Strukturplan Gesundheit

Problemfeld: Angst vor gesellschaftlichem Stigma als Hürde zur frühzeitigen Behandlung
Empfehlungen:

  • Offene Ansprache des Themas in Schulen – flächendeckende Einführung evidenzbasierter Präventionsprogramme im schulischen sowie im außerschulischen Rahmen.
  • Einsatz und Ausbau von Schul-Gesundheitsteams und Schulpsychologinnen als präventiver Mechanismus.
  • Elternprogramme, Elternschulungen auch schon im elementarpädagogischen Bereich.
  •  Ausbau von Mental Health Helplines / Chatangebote.
  • Psychische Gesundheit fördern durch inklusive gemeinschaftliche Aktivitäten, auch auf Gemeindeebene.

Impulse:

  • Tag der Psychischen Gesundheit
  • Beispiel Australien: Schulprogramme inkl. Lernmaterialien
  • Beispiel UK: Professionelle Betreuung durch Mental Health Coaches
  • Diese Empfehlungen richten die Experten der Kinderliga nicht nur an die Bundesregierung, sondern auch an die Bundesländer, die Österreichische Gesundheitskasse und alle kommunalen Entscheidungsgremien. In diesem Zusammenhang erneuert Kinderliga-Präsident Hackspiel die Forderung nach einer jährlichen Kindermilliarde, besonders für Prävention und Versorgung im Bereich der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit, um Familien und soziale Netzwerke zu stärken, um Kinderarmut zu verhindern, oder um allzu lange und damit unerträgliche Wartezeiten zu vermeiden. „Wir als Gemeinschaft von Menschen werden nur dann „gesund“ in die Zukunft gehen können, wenn wir ein gutes Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Kraft, sozialem Miteinander und ökologisch nachhaltiger Orientierung schaffen können. Dabei niemanden zurückzulassen, sondern alle – insbesondere unsere sozial, emotional und körperlich benachteiligten Kinder und Jugendlichen in die Mitte zu nehmen - bleibt unser optimistisches, kraftvolles Ziel“, so Hackspiel.

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