Die Psychologie des Schenkens: "Ohne Hingabe geht es nicht"
Er weiß, wovon er spricht: Michael Musalek gilt als einer der führenden Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie, ist Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien sowie Präsident der European Society for Aesthetics and Medicine – um nur einige seiner Tätigkeiten zu nennen. In all diesen beschäftigt er sich mit Menschen und ihrer Psyche. Und kommt dabei stets zu interessanten Erkenntnissen – speziell in der Vorweihnachtszeit, wenn es um das Schenken und Beschenken geht.
Welches Geschenk, das Sie einmal erhalten haben, werden Sie nie vergessen?
Ein Buch meines Großvaters, als ich elf Jahre alt war. Ich habe ihn immer nur einmal im Jahr gesehen. Er war alkoholkrank und ich hatte ihn sehr lieb.
Haben Sie deshalb den Beruf als Psychiater eingeschlagen?
Nein, aber es hat dazu beigetragen, dass ich es sehr schön finde, Suchtkranke zu behandeln. Sie sind in der Regel sehr sensibel, scheitern oft an ihrer eigenen Sensibilität, weil sie so hohe Ansprüche an sich selbst stellen und diese versuchen zu kompensieren, etwa mit Alkohol. Zu Weihnachten aber hat mein Großvater nie getrunken, das war auch die Auflage.
Welches Buch hat er Ihnen geschenkt?
"Die Spatzenelf" von Karl Bruckner. Es war zwar schon schön, es zu lesen, ich liebte damals Fußball, das ist auch das Thema des Buches, aber es ging mir vielmehr darum, dass er ein Buch für mich aussuchte – das ist das Besondere an einem Geschenk. Dass jemand sich Zeit nimmt und darüber nachdenkt, was gefallen könnte.
Was passiert in der Psyche, wenn man ein Geschenk erhält?
Das Erste und Wesentlichste zuvor ist, dass man sich überhaupt beschenken lässt. Schenken und Beschenken ist nämlich kein Warentausch, auch wenn es viele darauf reduzieren. Das tatsächliche Sich-Beschenken-lassen bedeutet, die Kontrolle aufzugeben und das Geschenk auf sich wirken zu lassen – und schließlich auch, Dankbarkeit zu fühlen und zu zeigen. Das löst ein positives Gefühl bei einem selbst aus, und führt auch beim anderen zu positiven Gefühlen.
"Wir haben vieles an Sensibilität verloren in dieser vernunft- und zeitgetriebenen Zeit. Wir spüren weniger. Und wir haben es verlernt, uns in etwas hineinfallen zu lassen. Genießen können nicht alle. Das Wort Hingabe ist für die meisten nicht positiv besetzt, doch ohne geht es nicht."
Warum tun sich viele dabei so schwer?
Zum einen, weil wir vieles an Sensibilität verloren haben in dieser vernunft- und zeitgetriebenen Zeit. Wir spüren weniger. Und zum anderen, weil wir es verlernt haben, uns in etwas hineinfallen zu lassen. Genießen können nicht alle. Das Wort Hingabe ist für die meisten nicht positiv besetzt, doch ohne geht es nicht.
Wie erlernt man Dankbarkeit und Hingabe?
Indem man lernt, Danke zu sagen. Es geht auch um die Wahl der Worte. Ein "Danke, dass wir diese Zeit miteinander verbringen konnten" ist einfach qualitativ und quantitativ etwas anderes als bloß zu sagen "Es war nett". Wir nehmen uns oft leider nicht mehr die Zeit für den persönlichen Kontakt, kommunizieren über Medien, es ist immer etwas zwischengeschalten. Wir sehen es etwa auch bei den Handys, für junge Generationen ist es absurd, dass man mit diesen auch telefonieren kann, da wird nur noch getextet. Und selbst beim Telefonieren ist bereits etwas dazwischen geschalten. Wir lieben es heute, rational zu sein. Doch das Wesentliche ist der direkte Augenkontakt – genau dort spielt sich die Emotionalität ab.
Hat die Coronazeit die Menschen entsprechend verändert und ist durch das fehlende Miteinander die Zahl psychischer Erkrankungen gestiegen?
Wir führten eine Untersuchung durch, um die größten Gründe der Belastung herauszufinden. Es war interessanterweise nicht die Angst vor der Krankheit oder die wirtschaftliche Situation – das kam erst später. Es war vielmehr die soziale Distanz, die die Menschen bewegte. Jugendliche hatten zudem das große Problem, dass sie in einem Alter, in dem man normalerweise anderen näherkommt, niemanden kennenlernten. Es passierte das wirklich Tragische, abseits der Toten: Es wurde soziale Distanz gefordert. Das ist das Schlechteste, das man in Krisen tun kann. Was wir brauchten, war körperliche Distanz.
Aber viele verbinden körperliche mit sozialer Nähe.
Genau. Und das stimmt auch, bei körperlicher Nähe ist auch die Chance auf soziale Nähe groß. Aber man kann auch sozial nahe sein, wenn man körperlich distanziert ist. Die Italiener zeigten uns das: Sie gingen auf die Balkone und sangen miteinander. Da ist man sich dann ganz nahe, über das gemeinsame Singen.
Zurück zum Schenken und Kaufen: Kann das auch zur psychischen Belastung werden?
Ja, es kann sogar in eine Sucht münden, weltweit leiden sechs bis acht Prozent unter Kaufsucht.
Woher kommt das?
Es gibt einen Faktor, der die Häufigkeit einer Sucht steuert: die Verfügbarkeit des Suchtmittels. Je leichter es zu haben ist, desto mehr wird es genommen, hier gibt es eine direkte Korrelation. Das gilt nicht nur für Substanzen wie Medikamente oder Alkohol, sondern auch für stoffungebundene Suchtformen. Am besten untersucht ist die Spielsucht – je mehr Automaten es gibt, desto mehr Spielsüchtige, so Untersuchungen. Beim Kaufen ist es genauso. In Deutschland wurde dazu eine interessante Studie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durchgeführt und es wurde dabei festgestellt, dass in den westlichen deutschen Ländern die Rate bei rund fünf Prozent lag, in den östlichen hingegen bei einem Prozent. 20 Jahre später wurde erneut eine Untersuchung durchgeführt, dabei stieg die Rate in Deutschland gesamt auf acht Prozent, in den östlichen Ländern auf fünf bis sechs Prozent. Der Grund: Das Kaufen und das Konsumieren wurden dort immer besser verfügbar.
Wie äußert sich diese Erkrankung?
Es ist ein hochkomplexes Geschehen und immer eingebettet in andere Krankheiten wie etwa die Depression. Bei der Kaufsucht spielt nicht das Gekaufte eine Rolle, sondern der Akt des Kaufens. Ähnlich wie bei Alkohol, er wird nicht des Geschmacks wegen eingenommen, sondern wegen der Wirkung. Bei Kaufsüchtigen ist es der Kaufakt selbst und nicht das Produkt, oft packen sie das Gekaufte gar nicht aus. Sie müssen immer mehr kaufen, um die Befriedigung zu erhalten. Frauen sind etwas stärker betroffen als Männer, es werden aber andere Produkte gekauft. Bei Frauen steht der Bekleidungssektor, bei Männern der Elektrosektor im Zentrum; bei Büchern und Tonträgern sehen wir kaum Unterschiede.
Wie wird das behandelt?
Suchterkrankung ist hochstigmatisierend. Daher kommen Betroffene oft sehr spät zu einer Behandlung, meistens erst, wenn es große finanzielle Probleme gibt. Es genügt nicht, die Sucht selbst zu behandeln, sondern man muss vor allem auch die gleichzeitig bestehenden Erkrankungen, wie z. B. Depressionen behandeln, vor allem aber muss eine Lebensschwerpunktänderung vollzogen werden, in der anderes Attraktives als bloßes Kaufen in den Vordergrund des Seins gerückt wird.
Kommen wir zurück zum generellen Einkaufen: Gibt es einen anderen psychischen Effekt zwischen Onlineshopping und Kaufen im Geschäft?
Ja, es ist ein riesiger Unterschied. Beim Online-Shopping ist die Befriedigung des Kaufakts eine kurze, da der Klick auf den Bestellbutton ein kleiner Moment ist. Das Kaufen im Geschäft beinhaltet den persönlichen Kontakt und erfordert auch mehr Zeit. Das Suchtpotential ist damit beim Online-Kaufen deutlich höher, weil man immer rascher, immer mehr von der kurzdauernden Befriedigung haben möchte. Demgegenüber ist bei Nicht-Suchtkranken zu beobachten, dass viele gern wieder mehr sozialen Kontakt, mehr persönlichen Austausch beim Einkaufen haben wollen. Gerade die Corona-Zeit hat gezeigt, dass es nicht ohne diesen geht und nicht gehen soll. Wir verarmen sonst emotional und sozial.
Haben Sie schon alle Gedanken für Weihnachtsgeschenke beisammen?
Noch nicht alle, aber einige wichtige schon. Ich beschäftige mich mit den Geschenken für jene Menschen, die mir besonders wichtig sind, nicht nur im Advent, sondern das ganze Jahr über.
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