NS-Kinderlandverschickung: "Rucksack voll ungeweinter Tränen"
"Da ist unser Klassenvorstand, das war der Schönbrunner." Der Archivar in der Runde, Dieter Roth, zeigt auf eine Fotografie aus dem sorgsam gehüteten Album. Seine ehemaligen Mitschüler nicken. Schönbrunner! Diesen Namen haben sich alle gemerkt. „Der war ein überzeugter Nazi“, sagt einer aus der Runde.
„Das sind wir beim Habt-Acht-Stehen in Bad Pieštány“, erklärt Walter Beckenbauer, weitschichtig verwandt mit dem ehemaligen Münchner Weltklassefußballer „Kaiser“ Franz Beckenbauer.
Vier Herrschaften haben sich heute zum Klassentreffen in einem Kaffeehaus neben der Wiener Oper eingefunden. Sie gehen schnurstracks auf ihren Neunziger zu, doch das sieht man ihnen nicht an. Vor allem, wenn sie sich an ihre gemeinsame Zeit in den Kinderlandverschickungslagern des NS-Regimes erinnern, ist vieles wieder so wie gestern.
„Wir waren ja damals erst zehn, elf Jahre alt“, gibt Karl Matuschka zu bedenken. „Das war auch unser Glück“, fügt Emmerich Kolovic hinzu. „Für eine Einberufung zu den letzten Abwehrschlachten der Nazis waren wir zu jung.“
Sie waren Unterstufengymnasiasten aus drei Schulen des zweiten Bezirks. Im Februar 1944 haben ihre Eltern eingewilligt. „Man hatte ihnen versprochen, dass man uns in ein Land bringt, in dem Milch und Honig fließen“, erinnert sich Herr Kolovic. Mit der Bahn ging es vom Ostbahnhof zunächst zu einem Gehöft in der Niederen Tatra. „Dass für uns eine mehr als einjährige Odyssee begann, war uns noch nicht bewusst“, ergänzt Herr Beckenbauer.
Zwei Millionen Kinder
„Das war durchaus so üblich“, erklärt dazu die Historikerin Veronika Siegmund. Für ein Buchprojekt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien hat sie die Erinnerungen von zahlreichen Zeitzeugen über ihre Kindheit in der NS-Zeit studiert (siehe Infokasten). Darunter sind auch Berichte von dreißig KURIER-Lesern, die sich nach unserem ersten Artikel zu diesem Thema im Juli 2018 gemeldet haben.
Über den Alltag in der NS-Zeit
Die „Doku Lebensgeschichten“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien sammelt persönliche Lebensaufzeichnungen aller Art, bewahrt sie auf und nützt sie für die Wissenschaft und die Bildungsarbeit. Die beiden Historiker Günter Müller und Veronika Siegmund bitten für ihr aktuelles Forschungsprojekt um Briefe, Tagebücher sowie Erinnerungstexte und Fotos,
die den Alltag von Kindern, Jugendlichen und Frauen in der NS-Zeit neu beleuchten.
Wer hat Erinnerungsstücke?
Schriftliche, gerne auch handschriftliche Berichte, Notizen und andere Dokumente (Fotos) aus jener Zeit bitte an: lebensgschichten@univie.ac.at
Telefonische Auskünfte erteilt Günter Müller: 01/4277–41306
„Zwei Millionen Kinder kamen ab dem Jahr 1940 in ein Lager“, weiß Historikerin Siegmund. „Das Regime wollte sie vor den Luftangriffen der Alliierten auf die Städte schützen. Sie waren auch ein idealer Ort für die politische Indoktrination.“
Die Kinder aus den österreichischen Städten wurden aufgrund des Kriegsverlaufs erst ab Ende 1943 evakuiert. Wie viele betroffen waren? Das kann heute nur geschätzt werden. Immerhin ist die Zahl der KLV-Lager bekannt: Bis zu 12.000 wurden im „Dritten Reich“ eingerichtet, weiß Veronika Siegmund. Auf dem Gebiet der „Ostmark“ gab es die meisten im heutigen Niederösterreich.
Fünfzig Jahre nach der Verschickung, im Juni 1994, hat Walter Beckenbauer seine ehemaligen Weggefährten zu einem Heurigen in Oberlaa gebeten. 18 von achtzig, die er angeschrieben hat, wollten dabei sein. „Heute sind leider nicht mehr alle von uns mobil beziehungsweise am Leben.“
Die Rote Armee
Das Gehöft in der Tatra steht in einem dichten Wald, den die meisten als düster erlebt haben. Schon ein Monat später führt sie ihre Odyssee in den westslowakischen Kurort Pieštány. Von dort geht es aufgrund des Näherrückens der Roten Armee Anfang Juli 1944 mit der Bahn nach Maria Schmolln, wo sie in das Kloster des kleinen Orts bei Braunau ziehen. Im Mai 1945 machen sie in einer Villa in Seewalchen erste Bekanntschaft mit US-Soldaten. Im Oktober 1945 kehren die Letzten nach Wien zurück.
Die Erinnerungen an das Lagerleben sind größtenteils ident, nur teilweise widersprechen sie sich. Den militärischen Drill konnte keiner vergessen. Dieser geht weniger von den aus Wien mitgeschickten Lehrern aus als vom jeweiligen „LMF“.
Der „LMF“ ist der „Lagermannschaftsführer“. Er ist in der Regel älter als die Schüler, kam öfters aus Deutschland und war auch regimetreu.
Dieter Roth erinnert sich: „Wer sein Bett nicht ordentlich machte, dem riss der LMF gleich das Leintuch runter und warf es auf den Boden.“
"Absurdität des Lebens"
Die langen Märsche, das lautstarke Singen und die Lagerfeuerromantik wird mehrheitlich nicht als bedrohlich erlebt. Ganz im Gegenteil. Auch die Order des strammen Leiters, dass Buben nicht weinen, trifft die meisten nicht hart. Immerhin kennen sie diese schwarze Pädagogik aus dem eigenen Elternhaus.
Und doch gibt es Tränen, nicht immer für alle sichtbar. Einer der ehemaligen Klassenkameraden, der nur selten zum Treffen kommt und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat lange nicht über seine Erinnerungen reden können. „Sie sind erst der zweite Mensch, dem ich das erzähle“, sagt er zum Berichterstatter. Der Erste war eine Therapeutin. Im Jahr 1981, kurz nach seiner Scheidung, erklärte er ihr: „Ich trage einen Rucksack voll ungeweinter Tränen mit mir“.
Der belesene Architektur-Professor im Ruhestand zitiert die „Absurdität des Lebens“. Aus seiner persönlichen Sicht stellte sich diese so dar: „Die Nazis wollten aus mir einen Nazi machen. Geworden bin ich ein Liberaler.“
"Von den Nazis betrogen"
Auch Rosa Zimerits, die heute in einem Gemeindebau in Wien-Simmering wohnt, erinnert sich mit gemischten Gefühlen an ihre Zeit in einem Lager in Drosendorf im Waldviertel. Sie hat damals ein einzigartig-berührendes Tagebuch angelegt.
Das Tagebuch
Rosa Zimerits und Veronika Siegmund (rechts)
Rosa Zimerits zeigt Veronika Siegmund (rechts) ihr Tagebuch
Sie deutet auf ein Foto in dem Zeitdokument. Auf dem Foto ihre damaligen Freundinnen: „Die Gerti, die Erika, die Mausi. Wir hatten damals eine sehr gute Kameradschaft. Wir haben viel gemeinsam gesungen, und in der Thaya habe ich schwimmen gelernt.“
Die Augen wurden ihr erst nach dem Krieg geöffnet, sagt Frau Zimerits: „Da habe ich mitbekommen, dass wir Kinder damals von den Nazis betrogen wurden.“
Christine Nöstlinger: Das Köfferchen war leicht
Erinnerungen der Autorin an ihre Verschickung nach dem Krieg
Meine Mutter gab mir einen Kuss und das Köfferchen, in dem alle meine Sommersachen waren. Das Köfferchen war leicht. Ein Kleid, eine Schürze, ein Faltenrock, eine Weste, eine Bluse, zwei Paar Sockerln und drei Unterhosen waren drin. Eine Frau hängte mir eine Spagatschnur um den Hals. Von der baumelte eine rosa Karte, auf der mein Name und der Name eines Ortes standen.
Im August 1945, der Krieg war seit drei Monaten zu Ende, stand die damals achtjährige Christine Nöstlinger mit ihrer Mutter auf einem Wiener Bahnsteig, um aufs Land geschickt zu werden. Sie sollte sich dort endlich einmal satt essen dürfen.
Die im Juni 2018 verstorbene österreichische Kinderbuchautorin schildert in ihrem erst im vergangenen Herbst erschienen Buch „Der Überzählige“ in knappen, umso eindringlicheren Worten ihre Landverschickung. Sie schreibt vom Gefühl des Fremdseins und der Unbarmherzigkeit, die auch unter Kindern herrscht. Sie erzählt von Einsamkeit, von grauslichen Care-Paketen auf der Fahrt – „Kinder, die sich nicht satt essen können, sind trotzdem oft heikel“ und von der unendlichen Verlorenheit in dem kleinen Ort, dem man natürlich dankbar sein müsse, dass er zwanzig Kinder aus Wien aufgenommen hat, wie jemand behauptet. Den viele Stunden aus Wien angereisten orientierungslosen Kindern sagt diese Pflicht zur Dankbarkeit natürlich gar nichts.
Sehr gelitten
In einem Interview erzählte Nöstlinger einmal, wie „kreuzunglücklich“ sie darüber war, dass man sie zu „irgendwelchen Bauern verfrachtet“ hatte. Und dass sie dort, in dem Dorf in Tirol, „sehr gelitten“ habe. „Ich hab die Bäuerin nicht verstanden, das Essen hat mir nicht geschmeckt...“
Christine Nöstlinger war in vieler Hinsicht eine bemerkenswerte und einzigartige Schriftstellerin. Nicht zuletzt, weil sie Kinder nie für bessere Menschen gehalten hat.
So schildert sie in „Der Überzählige“, wie die anderen Kinder einen Buben, der bei der Aufteilung der Stadtkinder unter den Bauern übrig geblieben ist, gnadenlos ausschließen. Weil er der „Überzählige“ ist. Dabei hätte es beinahe die kleine Christine selbst getroffen.
Der Bub wurde an ihrer Stelle zum „Überzähligen“: Und dafür war ich ihm dankbar und tat nicht mit, wenn ihn die anderen ausspotteten und mit Brennnesselruten hinter ihm herliefen. Aber geholfen habe ich ihm nie. So viel Mut kann man von einer Achtjährigen, die ihre Angst nicht loswird, als „Überzählige“ entlarvt zu werden, auch nicht verlangen. (Barbara Mader)
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