Flexibel statt pünktlich: Wie wir mit Zeit umgehen
Ich halte ja eine Uhr für überflüssig. Seh’n Sie, ich wohne ganz nah beim Rathaus. Und jeden Morgen, wenn ich ins Geschäft gehe, da schau ich auf die Rathausuhr hinauf, wie viel Uhr es ist, und da merke ich’s mir gleich für den ganzen Tag und nütze meine Uhr nicht so ab.
In Deutschland gehen die Uhren anders. Zumindest in einigen Betrieben – dort arbeiten Menschen nach ihrer inneren Uhr. Thyssen-Krupp beispielsweise hat damit experimentiert. Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben können Mitarbeiter deponieren, welche Schicht sie bevorzugen. Schließlich hat jeder Mensch natürliche Schlaf- und ein Wachfenster mit besonders produktiven Zeiten. Die Arbeitszeit in die individuelle Produktivzeit zu legen, wäre also nur vernünftig – das steigert die Leistung und hält gesund.
Auch Karlheinz Geißler ortet tief greifende Veränderungen im Umgang mit der Zeit. Lange Jahre Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik hat sich der deutsche Forscher intensiv mit allen Aspekten der Zeit beschäftigt. In seinem neuen Buch Die Uhr kann gehen prophezeit er das Ende von Pünktlichkeit und Gehorsamkeitskultur. Ein Gespräch einer unpünktlichen Interviewerin mit einem Wissenschafter, der das nicht übel nahm.
KURIER: Unter normalen Umständen würde ich mich entschuldigen, weil ich zu spät anrufe. Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, muss ich das aber nicht. Oder?
Karlheinz Geißler: Richtig. Ich habe ja gesagt „Rufen Sie ab 10.00 Uhr an.“ Ich organisiere mich nicht nach Zeitpunkten – das setzt mich nur unter Stress –, sondern nach Zeiträumen.
Nun sind Sie als Autor in einer privilegierten Situation. Ändert sich auch für Normalsterbliche gerade etwas?
Ja, wir ersetzten Pünktlichkeit durch Flexibilität. Auch, weil wir uns permanent umorganisieren. Diese Flexibilität wird im Wirtschaftsbereich, aber auch im Privaten für einen Fortschritt gehalten.
Ich bezweifle, dass das die viel zitierte Supermarktkassierin auch so sieht ...
... stimmt, sie ist eher das Opfer – früher der Uhrzeit, jetzt der Flexibilität. Der negative Aspekt der Flexibilität ist, dass sie 24 Stunden läuft. Flexibilität heißt: Immer flexibel. Und das ist belastend. Doch der Fortschritt ist nicht nur gut oder nur schlecht. Die Welt wird anders. Wenn wir Gleitzeit haben, dann können die Arbeitnehmer ausgeschlafen zur Arbeit kommen. Das sehe ich als Vorteil. Sie müssen wissen, dass die Uhr eine Zeitvorstellung ist, die dem Menschen ganz, ganz fern ist und die ihn von der Natur getrennt hat. Wir leben getrennt von der eigen Natur, die wir Gesundheit nennen, und auch von der äußeren Natur, die wir ökologische Probleme nennen.
Wie sollten wir leben?
Mein Ideal ist, sich nach den Naturrhythmen zu organisieren. Besonders nach dem, was der eigene Körper anzeigt. Hunger, Müdigkeit etc. Das viel stärker ins Tagesprogramm einzubauen und den Tag nicht nach der Uhr, sondern nach der eigenen Zeitnatur zu organisieren.
Wie hoffnungsfroh sind Sie, dass das in der Mitte der Gesellschaft ankommt?
Wir tun das doch schon – zum Beispiel am Wochenende oder im Urlaub. Mit Gleitzeit müsste das auch unter der Woche funktionieren. Doch wenn wir immer mehr verdienen wollen, stehen wir uns selbst im Weg, weil nur Uhrzeit in Geld verrechenbar ist, nicht aber unsere Zeitnatur.
BUCHTIPP
Karlheinz Geißler: „Die Uhr kann gehen. Das Ende der Gehorsamkeitskultur“. Hirzel. 19,80 €.
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