Demenzkranke: "Die Identität geht nicht verloren"

Demenzkranke: "Die Identität geht nicht verloren"
Mediziner warnen vor Entsolidarisierung und mangelndem Respekt.

Der erste Schultag. Der erste Kuss. Die Geburt eines Kindes. "Dieses episodische Gedächtnis ist bei Alzheimerpatienten als Erstes betroffen. Die eigene Biografie zerfällt – nicht von heute auf morgen, aber im Laufe von Jahren, und das macht die Krankheit so schicksalshaft", sagt Univ.-Prof. Peter Dal-Bianco, Leiter der Gedächtnisambulanz im AKH / MedUni Wien. Er war einer der Referenten beim "DiskussionsFORUM" des Hauses der Barmherzigkeit zum Thema "Vergessen. Erinnern. Identität", moderiert von KURIER-Chefredakteur Helmut Brandstätter.

"Die Frage lautet, kann man einem schwer dementen Menschen die Identität absprechen?", so Dal-Bianco. "Ich sage ganz klar: Nein. Auch wenn sich das eigene Verhalten im Laufe einer Krankheit ändert: Identität kommt vom lateinischen Wort idem, ,derselbe, dasselbe‘. Man bleibt immer derselbe, auch wenn wir einer Metamorphose, einer Verwandlung, unterworfen sind. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass auch die Identität eines Intensivpatienten nicht verloren geht." Denn die Identität sei die Gesamtheit aller Merkmale, die einen Menschen ausmachen.

Demenzkranke: "Die Identität geht nicht verloren"

Demente Menschen werden oft "zu liebenswerteren Menschen, weil andere Merkmale ihrer Identität in den Vordergrund treten. Die Frau eines Atomphysikers hat mir gesagt, ihr an einer Demenz erkrankter Mann sei wieder so wie früher in der Jugend, nicht mehr so gehetzt." Allerdings: "Sagen Angehörige, ‚das ist nicht mehr der Vater, das ist nicht mehr die Mutter, er oder sie verhält sich ganz anders als früher‘, wird ihnen damit die Identität abgesprochen. Aber was wir wahrnehmen, ist noch lange nicht die Identität, es ist nur das, was uns auffällt."

Symptome kaschieren

Die Angst vor solchen Reaktionen, vor einer Abnahme des Respekts und einem Verlust der bisherigen Position in der Familie sei auch der Grund, warum viele Betroffene erste Symptome so lange wie möglich kaschieren und verbergen. "Alltägliche Aufgaben werden vermieden oder delegiert, mit Sätzen wie ,ich möchte heute nicht auf die Bank gehen‘ oder ,ich bin zu müde, um heute Abend noch Freunde zu besuchen‘."

Der Neurologe warnt vor einer Entsolidarisierung mit dementen Menschen: "In schlecht geführten Institutionen haben diese Menschen ihre Identität und den Respekt verloren, das kann man ganz offen sagen."

Die Zahl der Pflegepersonen sei vielfach nicht ausreichend: "Die Politik stellt hier nicht genügend Mittel zur Verfügung." Es gebe einige Institutionen, die "mit dem Thema ein Geschäft machen, das auf dem Rücken der alten Menschen ausgetragen wird". Die 40- bis 50-Jährigen sind heute die bevölkerungsstärkste Gruppe: "In 30 bis 40 Jahren wird – wenn wir keine Wundertherapie bekommen – ein Drittel dieser Menschen dement sein. Angesichts dieser Zahl muss man die Frage stellen, ob wir nicht umdenken müssen, was die Wertschätzung und den Respekt vor diesen kranken Menschen bedeutet."

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Dass Vergessen die Voraussetzung dafür ist, denken zu können, darauf wies der Philosoph Univ.-Prof. Richard Heinrich hin: "Könnten wir nicht vergessen, würde uns das Gedächtnis gleichsam mental erdrücken, ersticken." Es sei sehr schwer vorstellbar, "wie wir, wenn wir nicht vergessen könnten, einen Erinnerungsverlauf überhaupt stabilisieren könnten".

"Die Würde eines Menschen ist unabhängig von seiner kognitiven Leistungsfähigkeit", betonte Univ.-Prof. Christoph Gisinger, Institutsdirektor vom Haus der Barmherzigkeit. "Auch wenn wir uns nicht mehr erinnern können, bleiben wir derselbe Mensch – mit derselben Würde und denselben Werten."

In der Behandlung von Menschen mit Demenz sehe man, welchen Wert eine Gesellschaft Menschen zumisst, die abhängig sind von anderen. "Bei guter Betreuung ist eine gute Lebensqualität auch mit Demenz möglich."

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Hohes Alter wird häufig pauschal mit geistigem und körperlichem Verfall und Pflegebedürftigkeit assoziiert – dabei handelt es sich aber um ein klischeehaftes Altersbild, das so nicht der Realität entspricht. Das zeigt die erste österreichische Hochaltrigenstudie (ÖIHS), die von der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Altersfragen (ÖPIA) durchgeführt wurde.

Von 410 Personen zwischen 80 und 85 Jahren in Wien und der Steiermark wurden die Gesundheits-, Lebens- und Betreuungssituation erhoben. Mehr als drei Viertel der Befragten gaben an, mit ihrer Lebenssituation zufrieden oder sogar sehr zufrieden zu sein. Knapp 55 Prozent der 80- bis 85-Jährigen sind in einem guten Gesundheitszustand (13,7 % sehr gut, 40,7 % gut).

Etwas mehr als ein Drittel hat einen relativ labilen Allgemeinzustand mit funktionalen Einschränkungen. Gebrechlich mit gravierenden gesundheitlichen Einschränkungen sind knapp zehn Prozent.

Volksleiden Hochdruck

Allerdings sind zwischen 80 und 85 Jahren bereits 92,4 Prozent der Menschen von zumindest einer chronischen Krankheit betroffen. An der Spitze steht Bluthochdruck mit 53,4 %, gefolgt von Harninkontinenz (34,1 %) und Herzkrankheiten (31,2 %). Knapp 20 Prozent gaben an, krebskrank zu sein oder gewesen zu sein, 18,3 % sind Diabetiker, 29 % leiden an Rheuma oder Gicht.

Nur 30 Prozent der Studienteilnehmer in Privathaushalten gaben an, im Alltag auf Unterstützung angewiesen zu sein. Schlechter sieht es offenbar bei den geistigen Fähigkeiten der Menschen zwischen 80 und 85 aus: Lediglich 15,5 % der Teilnehmer haben den kognitiven Test fehlerfrei absolviert. 11,7 % fühlen sich immer oder manchmal einsam, 11,5 % fühlen sich häufig deprimiert.

Finanzierungs- und Projektpartner waren das Gesundheits- und Sozialministerium, das Land Steiermark sowie der Hauptverband der Sozialversicherungsträger.

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