„Eine Verzerrung der Normalität“

„Eine Verzerrung der Normalität“
Krebs beeinflusst – als Teil des genetischen Erbes – wie keine andere Krankheit die Menschheit, sagt ein US-Arzt und Autor.

Das Leben des Krebses ist eine Nachbildung des normalen Lebens unseres Körpers.“ Das sagt der in Indien geborene Mediziner Siddhartha Mukherjee, 41, Assistenzprofessor an der New Yorker Columbia University und Onkologe am New York Presbyterian Hospital. Er hat eine Kulturgeschichte des Krebses und der Krebstherapien geschrieben. Für „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ erhielt er 2011 den Pulitzer-Preis. Diese Woche erscheint sein US-Bestseller auf Deutsch.

KURIER: Wieso nennen Sie Ihr Buch eine Biografie? Biografien werden doch über Menschen geschrieben?
Siddhartha Mukjerjee:
Es war nicht meine Absicht, Krebs zu personifizieren – und ich habe auch sehr darauf geachtet, dies zu vermeiden. Es ist keine Biografie im wörtlichen, sondern nur im übertragenen Sinn. Ich habe mir zum Beispiel das Thema Brustkrebs aus der Sicht von 1750, 1850, 1950 und 2050 angesehen und versucht – wie in einem biografischen Projekt – daraus eine Geschichte zu erzählen.

Die Formulierung „Der König aller Krankheiten“ stammt von einem Chirurgen aus dem 19. Jahrhundert. Kann man Krebs so herausheben? Es gibt ja auch andere schwere Krankheiten.
Zunächst: Krebs ist nicht eine Krankheit, es sind viele verschiedene Krankheiten. Krebs ist aber so ein unglaublicher Gegner, so eine unglaubliche Herausforderung an den menschlichen Erfindungsreichtum, dass es ihn wirklich zu einem ziemlich majestätischen Problem macht. In der heutigen Zeit gibt es nur eine einzige Krankheit, mit einer höheren Sterberate in der Gesamtbevölkerung: das sind Herzleiden. Aber gegen Krebs kämpfen wir schon so lange (siehe re.) , dass er wirklich etwas Einzigartiges darstellt. Und es gibt noch einen zweiten Grund: Krebs ist eine Verzerrung der Normalität, die im Körper entsteht.Weil die Herausforderung so komplex ist und Krebs die menschliche Intelligenz dabei so stark fordert, glaube ich, dass Krebs einen Einfluss auf unsere Kultur hat wie keine andere Krankheit.

Wo stehen wir in der Krebsbekämpfung heute?
Wir sind auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Krankheit. Aber die große Frage ist, ob dieses Verständnis auch zu neuen Präventions- und Behandlungsstrategien führen wird. Denn vom Verstehen zu neuen Präventions- und Therapiemöglichkeiten ist es ein ziemlich weiter Weg . Das ist die wahre Herausforderung für unsere Generation, das Verstehen in Therapien und Präventionsstrategien umzuwandeln.

Aber gibt es nicht durch dieses neue Verständnis schon Erfolge? Sie schreiben, dass die allgemeine Krebs-Sterblichkeit seit 1990 um 15, die Brustkrebs-Sterblichkeit sogar um 25 Prozent gesunken ist?
Natürlich, wir haben in einigen Bereichen große Erfolge. Aber diese Erfolge erinnern uns auch daran, wie viel mehr wir noch erreichen müssen – selbst beim Brustkrebs, und bei anderen Krebsarten noch viel mehr.

Sie mahnen mehr Bescheidenheit bei den Zielen der Krebsbekämpfung ein.
Ja, denn es ist ja keine einfache, universelle Heilmethode in Sicht. Unser Ziel muss sein, Krebs-Todesfälle vor einem hohen Alter zu verhindern und die Zeitdauer zwischen Behandlung, Resistenzentwicklung, Wiederauftreten des Krebs und neuerlicher Behandlung immer weiter auszudehnen.

Ihnen geht es auch um die Frage, ob irgendwann in der Zukunft „ein Ende des Krebses“ vorstellbar ist.

Ja, aber das wird o ft falsch verstanden: Nicht immer, aber zum Teil entsteht Krebs aus Fehlfunktionen von Genen, die für das normale Wachstum von Zellen verantwortlich sind. Diese Gene können wir aber nicht eliminieren, deshalb wird Krebs zu einem gewissen Ausmaß immer ein Teil unseres genetischen Erbes sein. Und deshalb ist es auch unwahrscheinlich, Krebs komplett aus der menschlichen Gesellschaft zu entfernen. Aber wir können das Risiko senken, indem wir uns nicht Sachen aussetzen, die diese genetische Anfälligkeit sichtbar werden lassen – etwa Tabak oder Viren,die Krebs auslösen können, wie HPV. Darüber hinaus ist etwa Brustkrebs mit dem Altern verbunden – und das Altern können Sie nicht eliminieren.

Wo werden wir im Jahr 2050 stehen?
Wir werden einen Teil der Krebserkankungen behandeln, einige verhindern und wir werden gelernt haben, einige andere Erkrankungen zu heilen – es wird wie heute ein sehr heterogenes Feld sein.

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