Diese Gehirnleistung unterscheidet uns wirklich vom Tier
Martin Korte ist Experte in der Erforschung der zellulären Grundlagen von Lernen und Gedächtnis. Der Hirnforscher lehrt an der TU Braunschweig und zählt zu den führenden deutschen Neurobiologen. Im Interview spricht er über das Wunder Gehirn und wie leicht es ist, es in Höchstform zu bringen - bereits von Kindheit an.
KURIER: Ist das Gehirn eines Kindes bei der Geburt noch eine „Tabula rasa“?
Martin Korte: Nein, es hat Grundverschaltungsstrukturen, die genetisch vorgegeben sind – etwa, wie die Verarbeitung der Sinnesinformationen funktioniert oder die Regeln, wie wir lernen können.
Dafür gibt es verschiedene Gedächtnissysteme, die unterschiedlich zu arbeiten beginnen. Die Habituation, das Erlernen durch Gewöhnung, beginnt bereits vor der Geburt. Der Fötus reagiert etwa auf sehr laute Geräusche. Wenn er merkt, dass das keine Konsequenzen hat, reagiert er beim nächsten Mal viel weniger. Nach der Geburt lernt das Neugeborene weiter; das Sehen, das Abgrenzen der Sinnesinformationen voneinander, das Identifizieren von Gerüchen – und die Sprache. So kann man alle Gedächtnissysteme durchgehen.
Erste autobiografische Erinnerungen, die sich bis in das Erwachsenenalter halten, kommen ab dem dritten, vierten Lebensjahr. Da sieht man aber, dass einige Teile der Gedächtnissysteme lange brauchen, um sich zu entwickeln
Es reicht, wenn man den Ratschlag unserer Großmütter befolgt. Setzt man das Kind zu sich in die Küche, erfüllt man fast alle Anforderungen, die es in den ersten drei Lebensjahren braucht.
Wie wichtig ist für die Entwicklung unseres Gehirns und seine Leistung frühkindliche Förderung?
Es reicht, wenn man den Ratschlag unserer Großmütter befolgt. Setzt man das Kind zu sich in die Küche, erfüllt man fast alle Anforderungen, die es in den ersten drei Lebensjahren braucht. Es ist sozial involviert, hört Sprache, nimmt verschiedene Gerüche wahr, bekommt viele Sinneseindrücke – darüber hinaus muss man nichts Spezielles anbieten. Was in der heutigen Zeit leider ein Problem ist: Die Eltern reden mit ihren Kindern, aber sie beschäftigen zeitgleich mit dem Handy. Für das Erlernen der Sprache ist es essenziell, dass das Kind angeschaut wird. Nur so wird sein Wortschatz groß, nur so sieht es, mit welcher Emotion Wörter ausgesprochen werden. Tatsächlich benutzen wir Menschen auch die Lippenbewegung, um Wörter zu verstehen – das muss ein Kind erst abspeichern. Tippen Eltern beim Reden mit dem Kind auf dem Handy herum, ist das nur eine suboptimale Förderung. Da gilt es diszipliniert zu sein: Es gilt, das Kind beim Sprechen anzuschauen – das ist essenziell für einen großen Wortschatz.
Woran liegt das?
Wir verfügen über Gehirnareale, die Gesichter auslesen. Die Emotion beim Gesichterauslesen wird mit den Wortbedeutungen assoziiert. Wir erinnern uns an mehr Wörter, wenn wir mehr Emotionen dazu haben. Das erhöht den Wortschatz. Darüber hinaus benutzen wir beim Verstehen auch die Lippenbewegung. Wir verlassen uns nicht alleine auf die Akustik – von daher sind die Lippenbewegungen, um zu verstehen wichtig. Umso besser ich verstehe, was jemand sagt, umso größer wird auch mein eigener Wortschatz.
Welche Leistung erbringt das Gehirn beim Erlernen all dieser Dinge, verglichen mit der Leistung eines Computers?
Ein Mensch speichert im Laufe seines Lebens das, was auf 100 Millionen CDs Platz hat. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird in den ersten Lebensjahren bewahrt. Aber man weiß nicht, ob ein Fünftel oder ein Drittel davon in den ersten Lebensjahren passiert – das kann man schwer berechnen. Alleine die Sprache wären bei Computern sehr rechnungs- und speicherintensive Vorgänge. Gehenlernen ist etwa für einen Roboter ein riesen Problem, vor allem, wenn es um einen flüssigen Bewegungsablauf geht. Das lernen Kinder im ersten Lebensjahr.
Die autobiografische Erinnerung beginnt also erst ab dem dritten Lebensjahr. Warum so spät?
Das hängt einerseits damit zusammen, wie schnell sich die Sprachareale im Gehirn entwickeln. Um bewusste, biografische Episoden speichern zu können, benötigt der Mensch die Sprache. Auf der anderen Seiten brauchen wir für das langfristige Abspeichern des autobiografischen Gedächtnisses den Hippocampus. Dieser entwickelt sich zwar früh, aber die Verbindungen zur Großhirnrinde sind noch schwach. Der Hippocampus speichert Informationen zwischen und transferiert sie für die dauerhafte Erinnerung in die Großhirnrinde. Der Transfer funktioniert vor dem dritten Lebensjahr nicht gut.
Was passiert im Hirn, damit ein Erlebnis zur Erinnerung wird?
Das wissen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass das Netzwerk von Nervenzellen bestimmte Synapsen verstärken, andere abschwächen muss, damit sich ein gewisses Muster einer neuronalen Aktivität in das Gehirn einbrennt. Dieses kann wieder ausgelöst werden, wenn es bestimmte Überlagerungen gibt. Nehmen wir also Gerüche wahr, die zu einer bestimmten Lebensphase gehören, kann diese Überlappung benutzt werden, um eine ganze Erinnerungsschleife wieder abzuspielen. So stellen wir es uns vor.
Auch der Mensch als kulturelles Wesen oder im familiären Verband ist nur durch das autobiografische Gedächtnis und das Faktengedächtnis möglich.
Sind autobiografische Erinnerungen für den Menschen essenziell?
Ja. Wir denken immer, dass sie wichtig sind, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, aber das ist gar nicht der Fall. Wir brauchen sie, um die Zukunft zu planen. Nur wenn wir Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht haben, wissen wir, wie wir künftig mit ihnen umgehen. Auch der Mensch als kulturelles Wesen oder im familiären Verband ist nur durch das autobiografische Gedächtnis und das Faktengedächtnis möglich.
Zeichnet uns unsere Gedächtnisleistung dem Tier gegenüber aus?
Unsere Gedächtnisfähigkeit ist nicht besser als die der Tiere. Es gibt Sibirische Meisen, die 20.000 verschiedene Verstecke von Samen wiederfinden, das kann kaum ein Mensch. Was uns von Tieren unterscheidet, ist die Qualität unserer Kultur. Die Voraussetzungen dafür sind eben ein autobiografisches Gedächtnis, ein Faktengedächtnis und die Fähigkeit, Erfahrungen kommunizieren zu können. Ein Beispiel: Ein bestimmtes Verfahren der Essenszubereitung von Generation zu Generation weiterzugeben, ist eine große Leistung. Das macht uns einzigartig.
Die kognitiven Fähigkeiten der Tiere
Ästhetisches Empfinden
Dass Tiere Kunst erschaffen, ist für viele vielleicht neu. Aber die Seidenlaubenvögel machen es vor. Während der Balzzeit bauen sich die Männchen aus Zweigen Arenen, um in ihnen um ihre Angebetete zu buhlen. Neben architektonischen Fähigkeiten beweisen sie ästhetischen Anspruch. Sie verzieren ihre Arenen mit Dingen, die sie schön finden. Und das sind vor allem blaue Gegenstände – warum, weiß keiner –, die sie von weither anschleppen. Zusätzlich zerquetschen sie blaue Beeren, basteln sich aus Grashalmen Pinsel und malen die Arenen sogar an.
Werkzeuge
Der Mensch wurde zu dem, was er heute ist, weil er lernte, Werkzeuge zu bauen und nutzen. Selbst in dieser Disziplin können einige Tiere mithalten. Singdrosseln suchen sich exponierte Steine in der Wiese, um Schneckenhäuser knacken
zu können. Der Galapagos-Spechtfink (Bild) bricht Stacheln von Kakteen ab, um sich Maden aus Baumstämmen herauszuholen. Delfine stülpen sich Meeresschwämme über ihre empfindliche Schnauze, bevor sie den Sand nach Fressbarem durchwühlen. Die Meister im Umgang mit Werkzeugen sind wohl die Krähen: In einem Experiment zeigte sich, dass sie sogar Drahtstücke zu Haken verbiegen, um damit einen kleinen Kübel mit Fressbarem an seinem Henkel aus einem weiteren Behälter angeln zu können.
Kommunikation
Menschen können sich unterhalten, Tiere nicht. Das Vorurteil wurde von Wissenschaftlern längst entkräftet. Es zeigt sich, dass einige Tiere eine Sprache haben. Ein Beispiel sind die Gesänge der Blauwale (Bild), die über viele Kilometer weit zu hören sind. Ihre Sprache ist so komplex, dass der Mensch sie bisher nicht entschlüsseln konnte. Präriehunde verfügen sogar über eine einfache Grammatik: Mit ihren Alarmrufen informieren sie Artgenossen nicht nur darüber, wer ihr Revier betritt, sondern auch wie er aussieht. Das geht so: Stellt ein Präriehund die Reihenfolge von Teilen seines Rufs um, verändert sich die Information.
Gerechtigkeitsempfinden
Haben nur Menschen so etwas wie Ethos, Moral oder Gefühle? In einem Versuch mit Kapuzineraffen zeigte sich, dass die Tiere Fairness empfinden. Sie bekamen Bausteine. Gaben sie dem Wärter einen, erhielten sie ein Stück Gurke. Alle waren zufrieden, bis der Wärter einem bestimmten Affen eine Weintraube gab. Zunächst tauschten die anderen Tiere erneut einen Baustein ein. Als sie wieder Gurken bekamen, brachen sie den Versuch ab. Sie warfen ihre Bausteine nach dem Wärter und drehten sich demonstrativ weg. Sie hielten die Vorgangsweise nicht für fair.
Sprachen lernen
Border-Collie Chaser kennt die Namen von 1022 Spielzeugen. Sie kann diese aber auch in Kategorien unterteilen: Sagt man ihr Ball, bringt sie der Reihe nach alle 116 kugelähnlichen Gegenstände aus ihrem Fundus. Bei genauerer Beschreibung – etwa „kleiner, weicher, roter Ball“ – liegt Chasers Trefferquote immer bei 100 Prozent. Das entspricht der Sprachentwicklung eines 4-jährigen Kindes. 10.000 Wörter bilden den aktiven Wortschatz eines Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss.
Kann man das autobiografische Gedächtnis trainieren?
Insofern schon, dass man über sein Leben reflektiert. Spricht man über Geschehnisse oder macht sich Notizen, wird jedes Erlebnis neu abgespeichert. Dadurch kann es leichter wieder aufgerufen werden. Daher plädiere ich stets dafür, dass Familien an einem Tisch zusammenkommen und über den Tag reden sollen. Das hilft, Tageserlebnisse ins Langzeitgedächtnis einzuspeichern.
Ist unser Gedächtnis unendlich belastbar?
Wir haben bisher kein Limit gefunden. Limitierend ist aber, was wir abrufen können. Das hat jeder schon erlebt: Braucht man eine bestimmte Information zu einem bestimmten Zeitpunkt, können wir nur einen Bruchteil dessen, was im Gehirn abgespeichert ist, abrufen. Aber die Speicherkapazität des Gedächtnisses ist groß.
Schützt uns das Gehirn so vor einer Überforderung?
Es ist eher eine Frage des Speichermodus. Unser Gehirn könnte nicht so viele Informationen bewahren, wenn es alle Details abspeichert. Es werden nur Bruchteile gesichert. Um diese abrufen zu können, muss man eine Situation generieren, die der ähnlich ist, wo die Speicherung stattfand.
Man kann dem Gehirn also eine angenehmere Situation bereiten, damit es Informationen herausgibt?
Genau. Je mehr Hinweisreize ich ihm gebe, desto mehr kann es sich erinnern.
Gibt es Situationen, wo unser Gehirn überfordert ist?
In extremen Stresssituationen kann es passieren, dass der Hippocampus seine Aktivität komplett einstellt. Wenn wir Informationen aufnehmen, brauchen wir zudem die Aktivität des Arbeitsgedächtnisses. Das sind Areale im Stirnlappenbereich, die Wichtiges von Unwichtigem trennen und bestimmen, worauf wir uns konzentrieren sollen. Dieser Speicher ist relativ klein. Versuchen wir in zu kurzer Zeit zu viele Informationen zu verarbeiten, kann es passieren, dass gar nichts hängen bleibt.
Braucht unser Gehirn Auszeiten?
Unbedingt. Wir brauchen Entspannungszeiten, weil das Gehirn da neue Verschaltungswege ausprobiert. Das sogenannte Tagträumen ist eine Auszeit, die man während der Arbeit einsetzen kann. Auch Schlaf ist extrem wichtig, weil wir dabei das, was wir tagsüber gelernt haben, noch einmal abspeichern. Es sollten übrigens mindestens sieben Stunden sein.
Warum lässt unser Gedächtnis irgendwann einmal nach?
Weil Nervenzellen absterben und die Rechenkapazität abnimmt. Unsere Rechenoperationen sind auch mit der Geschwindigkeit, in der Nervenzellen miteinander reden, verknüpft. Diese Kommunikation hängt davon ab, wie gut und dick die Kabel, also die Axone, ummantelt sind. Die Isolierung nimmt mit dem Alter Schäden. Wir haben also weniger Nervenzellen, dadurch weniger an Rechenkapazität und ein langsamer getaktetes Gehirn.
Ist das irreversibel?
Je mehr das Gehirn benutzt wird, umso länger hält es. Bei Gehirnen, die neugierig bleiben, setzen die Alterungsprozesse später ein. Auch bei Menschen, die sich viel bewegen, bleiben die Gehirne länger funktionstüchtig. Aber es gibt nichts, was die Alterungsprozesse komplett aufhält.
Tierische Höchtleistungen
Bei aller Hirnleistung sind uns Tiere in pysischer Hinsicht natürlich weit überlegen. Hier ein paar Beispiele.
Usan Bolt vs. Hippo
Geschwindigkeit: Usain Bolt stellte im Jahr 2009 einen Weltrekord auf, der bis heute ungebrochen ist. Für 100 Meter benötigte er 9,58 Sekunden, was umgerechnet einer Geschwindigkeit von 37,58 km/h entspricht. Darüber kann ein Gepard nur milde lächeln: Er kann eine Höchstgeschwindigkeit von 90 bis 120 km/h erreichen. Selbst ein Nilpferd kommt knapp an Usain Bolt heran: Das schwerfällig wirkende Tier erreicht bis zu 35 bis 37 km/h, wenn es sein muss.
Isländer-Mukkis vs. Ant-Man
Kraft: Hafthor Julius Björnsson, den wir als Gregor Clegane in „Game of Thrones“ kennen, stellte bei der diesjährigen Arnold-Strongman-Competition einen neuen Rekord im Kreuzheben auf. Der Schauspieler stemmte unglaubliche 472 Kilogramm. Absolute Stars in dieser Disziplin sind aber Ameisen: Sie heben locker das 9,5-Fache ihres Körpergewichts. Rechnet man das auf einen Menschen um, müsste Hafthor Julius Björnsson etwa 8000 Kilo hochhieven.
Randy Gardner vs. Waldgiraffe
Schlaf-Wach-Zeit: Wie wichtig Schlaf für den menschlichen Organismus ist, betonen Wissenschaftler und Mediziner immer wieder. Im Zuge einer Studie blieb Randy Gardner vom 28. Dezember 1963 bis zum 8. Januar 1964 wach, 264,4 Stunden. Mit massiven Auswirkungen: Der Amerikaner war am Ende des Experiments nicht mehr handlungsfähig. Im Schnitt braucht der Mensch am Tag sechs bis acht Stunden Schlaf. Das Okapi versteht das nicht: Die Waldgiraffe benötigt nur fünf Minuten Schlaf am Tag – aufgeteilt auf zehn Tiefschlafphasen à 30 Sekunden.
Javier Sotomayor vs. Wiesenschaumzikade
Sprungkraft: Schon 25 Jahre ist es her, dass Javier Sotomayor den bis heute gültigen Weltrekord im Hochsprung aufstellte. Er nahm unter dem rhythmischen Klatschen des Publikums Anlauf, sprang und überwand 2,45 Meter. Der Wiesenschaumzikade kann der Kubaner aber nicht das Wasser reichen. Das sechs Millimeter große Insekt springt aus dem Stand 70 Zentimeter. Wäre die Wiesenschaumzikade so groß wie Javier Sotomayor, würde sie an die 200 Meter hochspringen – aus dem Stand.
César Cielo Filho vs. Fächerfisch
Schwimmen: César Cielo Filho hält den Weltrekord in 50 Meter Freistil. Der Brasilianer schwamm diese Distanz in nur 20,91 Sekunden. Seit 2009 kommt niemand mehr an diese Geschwindigkeit heran. Von der Leistung des Fächerfisches kann der Mensch nur träumen: Dieser erreicht mit Leichtigkeit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 110 km/h. Im Vergleich: Profi-Schwimmer halten durchschnittlich bei sieben km/h.
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