Mit der Totenmaske der jungen Frau sollte jedenfalls Geschichte geschrieben werden. Die Augen sanft geschlossen, die Haut glatt, die Wangen schön geformt und voll, auf den Lippen trägt sie ein zufriedenes Lächeln. Das Haar fällt gescheitelt über die Ohren und ist im Nacken zusammengebunden.
Binnen kürzester Zeit wurden unzählige Replikate und Fotografien der Totenmaske angefertigt. Sie wurde zum begehrten Objekt, um das ein regelrechter Kult entstand. In intellektuellen und auch in künstlerischen Kreisen schmückte sie fortan fast jedes Wohnzimmer und Atelier. Zuerst in Frankreich, dann wurde sie in ganz Europa zum beliebten Dekorationsgegenstand.
Zweifel kommen auf
Ihre geheimnisvolle Geschichte inspirierte Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke. "Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüsste es", schrieb er in seinem Roman "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".
Der Philosoph Maurice Blanchot beschrieb sie als "ein junges Mädchen mit geschlossenen Augen, das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln […], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen." Albert Camus soll sie als "ertrunkene Mona Lisa" bezeichnet haben. Ödön von Horváth schrieb eine Krimikomödie über die junge Frau. Dadurch verstärkte sich der Mythos um die "Unbekannte aus der Seine" über Jahrzehnte immer weiter. So die Legende.
Doch an der Geschichte der Wasserleiche gab es zunehmend Zweifel. Die Gesichter ertrunkener Menschen seien niemals derart friedvoll, hieß es etwa von Seite der Pariser Flusspolizei. Die Toten, die sie aus dem Wasser ziehen, seien aufgedunsen und geschwollen, sagte der Leiter der Behörde einmal zu BBC. Andere waren überzeugt davon, dass ein professionelles Model hinter der Maske stecken muss.
Die deutsche Kultur- und Literaturwissenschafterin Elisabeth Bronfen widmete sich in den Neunzigerjahren in ihrem Werk "Nur über ihre Leiche" dem fraglichen Genussempfinden, das der Tod schöner Frauen auslöst. Sie schreibt zudem von einem Hamburger Gipshersteller, der hinter der ikonischen Totenmaske stecken soll. Angeblich hätte dieser das Gesicht seiner (lebendigen) Tochter verewigt.
Resusci Anne
Keine Legende jedoch ist die Geschichte von Resusci Anne, der ersten Reanimationspuppe, um Erste-Hilfe-Maßnahmen zu trainieren (engl. Resuscitation; Wiederbelebung). Asmund Laerdal (verstorben 1981) war ein norwegischer Spielzeughersteller, der später auch medizinische Produkte erzeugte. Vor allem Innovationen für Notfallmedizin waren ihm wichtig, nicht zuletzt weil er seinen Sohn im Alter von zwei Jahren vor dem Ertrinken rettete.
Dieser Sohn ist heute bereits über 70 Jahre alt und heißt Tore Laerdal. Im Jahr 2013 stand er mit der Totenmaske der "Unbekannten aus der Seine" in der Hand auf einer TEDX-Talk-Bühne und sprach sichtlich gerührt von seinem Vater. "Er war sehr bewegt von der Legende der jungen Frau und bat einen dänischen Bildhauer, eine Anfertigung des Gesichts zu machen, die für eine Wiederbelebungspuppe funktioniert." So wurde etwa der Mund leicht geöffnet (zum Beatmen).
Asmund Laerdal erkannte nämlich u. a. gemeinsam mit dem Mediziner Peter Safar, dass für eine effektive Herz-Lungen-Wiederbelebung die richtigen Übungsmöglichkeiten fehlten. Sie entwickelten daher die Puppe mit dem Gesicht der Unbekannten, an der ab 1960 trainiert werden konnte, und revolutionierten damit die Rettungsausbildung. Sie erhielt den Namen Resusci Anne. Am Ende seines Vortrages sagt Tore Laerdal: "Mein Vater machte das Gesicht des Todes zum Gesicht des Lebens." Manche bezeichnen die Unbekannte auch als die "meistgeküsste Frau der Welt".
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