"Der Psyche wird zu viel zugemutet"

"Der Psyche wird zu viel zugemutet"
Die Wirtschaftskrise in Griechenland führt auch zu einer Gesundheitskrise. Die Zahl der Suizide steigt stark an.

Ich bin hier mittlerweile so etwas wie ein Seelsorger", sagt Prof. Lefteris Grigoriadis, der in Innsbruck ein griechisches Kulturinstitut betreibt: "Erst gestern stand ein verzweifelter Installateur aus Thessaloniki bei mir, der in seiner Heimat keinen Job mehr findet und nicht weiß, wie er die Familie ernähren soll. Der Psyche der einfachen Menschen, die immer hart gearbeitet haben und jetzt nicht wissen, wie es weitergehen soll, wird zu viel zugemutet. Viele Menschen sind verzweifelt, deprimiert. Ich fürchte, deren Zahl wird weitersteigen."

Was Grigoriadis täglich in Telefonaten und Gesprächen mit Landsleuten erlebt, bestätigt jetzt auch eine im Medizinjournal The Lancet erschienene Studie einer Gruppe um David Stuckler von der Uni Cambridge:
- Die Zahl der Menschen, die ihren Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht bezeichnen, ist um 14 Prozent gestiegen.

- Die Zahl der Suizide war 2009 bereits um 17 Prozent höher als 2007. Im Jahr 2010 soll es dann einen Anstieg um 25 Prozent gegenüber 2009, und in der ersten Jahreshälfte 2011 eine weitere Zunahme um 40 Prozent (gegenüber der ersten Jahreshälfte 2010) gegeben haben.

- Die Zahl der Aufnahmen in öffentlichen Spitälern ist von 2009 auf 2010 um 24 Prozent gestiegen: Weil offenbar viele Griechen Besuche beim niedergelassenen Arzt (hier gab es ein Minus von 14 %) so lange hinauszögern, bis es nicht mehr anders geht - und weil sie deutlich seltener Privatspitäler aufsuchen (deren Patientenzahlen sind um zirka 25 bis 30 Prozent gesunken).

"Ich habe vor Kurzem auf einem Kongress in Berlin mit griechischen Kollegen gesprochen", sagt der griechischstämmige Intensivmediziner Univ.-Prof. Michael Joannidis von der MedUni Innsbruck: "Jungärzte in öffentlichen Spitälern verdienen oft weniger als 1000 Euro. Viele müssen mittlerweile einen zweiten Job - nicht immer einen medizinischen - ausüben, um überleben zu können." Laut Lancet -Studie wurden die Budgets der Spitäler um 40 Prozent gesenkt, gleichzeitig steigt aber die Patientenzahl. Fazit: Die Patienten bestechen das Personal, um die langen Wartezeiten zu verkürzen.

Spätere Heilung

"Steigt die Arbeitslosigkeit, steigt auch die Suizidrate", sagt Univ.-Prof. Johannes Wancata, Leiter der Abteilung für Sozialpsychiatrie der MedUni Wien. "Allerdings ist in Ländern mit einem funktionierenden Sozialsystem dieser Anstieg viel geringer - wenn also die Menschen finanziell und psychisch aufgefangen werden und sie nicht vor dem Nichts stehen."

Arbeitslosigkeit führe auch dazu, dass die Heilung psychischer Krankheiten wie Depressionen oder Angstzustände viel länger dauert: "Der Zustand der Betroffenen bessert sich viel langsamer. Schon alleine durch diesen Effekt steigt die Gesamtzahl der Kranken."
Studienautor Stuckler: "Die gewöhnlichen Menschen in Griechenland zahlen derzeit den höchsten Preis - und in den schlimmsten Fällen verlieren sie ihr Leben."

"Der Psyche wird zu viel zugemutet"

Nachgefragt: "Wir übertreiben mit unseren Ängsten"
Alfred Lackner ist Wirtschaftspsychologe in Wien.
KURIER: Auch wenn die Situation in Österreich eine ganz andere wie in Griechenland ist, sind viele Menschen verunsichert. Zu Recht?
Alfred Lackner: In den vergangenen 30 Jahren gab es eine "Immer-mehr"-Stimmung: Immer mehr Wachstum, immer mehr Wohlfahrtsstaat. Niemand wollte wahrhaben, dass vielleicht manches auf nicht ganz so sicheren Beinen steht. Risiken wurden ausgeblendet. Unser Gefühl von Sicherheit war also übertrieben. Jetzt, wo wir sehen, auf Dauer funktioniert dieses System nicht, übertreiben wir auch mit unseren Ängsten.

Warum tun wir das?
Weil wir immer den direkten Vergleich zu früher ziehen. Sollte es tatsächlich einen kleinen Verlust an Lebensstandard geben, dann erleben wir ihn subjektiv viel intensiver, als dies objektiv angemessen wäre. Wir übersehen, dass es uns in Mitteleuropa - trotz aller Probleme - immer noch extrem gut geht. Das Problem ist bis jetzt in Österreich - gesamtgesellschaftlich gesehen - nicht die Veränderung der persönlichen Lebensumstände: Das Problem ist der Perspektivenwechsel, dass die Wachstumsideologie nicht mehr selbstverständlich ist. Ich vergleiche das mit einem Drogensüchtigen: Noch gibt es genug von den Drogen Wachstum, Erfolg, materieller Reichtum. Aber der Umstand, dass das einmal anders sein könnte, der bereitet uns Stress.

Was kann ein einzelner Mensch tun?
Solche Prozesse führen zu mehr Demut: Man schätzt das mehr, was man hat. Und man denkt mehr über seine Ziele nach. Wer nur die negativen Schlagzeilen in den Medien aufsaugt, der kommt tatsächlich in einen Angstzustand - weil er sich ausgeliefert fühlt. Wer sich aber tiefgehender informiert, wird merken, dass es nicht nur Schwarz-Weiß gibt. Ganz wichtig ist auch, zu versuchen, im privaten Umfeld seine Beziehungen so weit wie möglich positiv zu gestalten, zum Guten zu verändern: Je mehr man selbst handlungsfähig bleibt, desto weniger Angst hat man.

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